Prolet, aber schnieke
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Prolet, aber schnieke

Wolf Jobst Siedler berichtet in seiner lesenswerten Aufsatz- und Briefsammlung Wider den Strich gedacht über den am Boulevard Unter den Linden angesiedelten Berliner

Herrenschneider Ludwig, der in seinem ausgebombten Haus noch nach dem Kriege sein Geschäft betrieb. Ein Kunde prägte sich ihm besonders ein, weil der stets Arbeiteranzüge und Schiebermützen bestellte, aber aus feinstem englischen Stoff. Sein Name war Bertolt Brecht.

Das war in jeder Hinsicht zu erwarten…

(Quelle: Wolf Jobst Siedler, „Bürgerliche Straßen in unbürgerlicher Welt“, in: ders., Wider den Strich gedacht, München 2006, S. 49-68, hier S. 61. Beitragsbild: Berlin, Unter den Linden (1890-1900), also einige Jahrzehnte zu früh, an Brecht gemessen; Library of Congress: No known restrictions on publication.)

Massenschlachtungen und die Gefahr von Irrtümern
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Massenschlachtungen und die Gefahr von Irrtümern

Nun sollen Massenschlachtungen das Klima retten. Tausende Rinder sollen getötet werden, um die Klimakatastrophe abzuwenden.

Woran erinnert mich das?

1915 tobte der Erste Weltkrieg. Im März dieses „Sündenjährchens“ (Thomas Mann) zeigten sich Wissenschaftler gewiß, daß den Schweinen im Deutschen Reich das Futter ausgehen werde, die Tiere also zu schlachten sein – fünf Millionen Stück. Natürlich lief die Sache auf unvorhergesehene Konsequenzen hinaus. Der Riesenberg an Fleisch war nicht zu bewältigen. In kriegsbedingt minderwertige Konserven abgefüllt, man brauchte das Metall für Granaten, war ein Großteil des Schweinefleischs im Herbst 1915 bereits verdorben.

1916 zeigte sich dann, wie Udo Pollmer ausführt, daß der Schweinedung nicht ausreichte, um auf den Äckern befriedigende Erträge zu erwirtschaften. Der Erträge sanken um mehr als die Hälfte im Vergleich zu den letzten Friedensjahren. Kunstdünger stand nicht zur Verfügung, da dessen Zutaten in die Sprengstoff- und Munitionsproduktion gingen. Schließlich bewirkte ein äußerst regnerischer Herbst eine Kartoffel-Mißernte. Damit brach jene Ernährungskatastrophe an, die sich unter den Bezeichnungen „Steckrübenwinter“ oder „Kohlrübenwinter“ in das kollektive Bewußtsein der Deutschen eingegraben hat. (Die Erinnerung eines Zeitzeugen finden Sie hier.)

Alles in allem: Der „Schweinemord“ 1915 war, wie Reinhard Güll konstatiert, „eine fatale Fehlentscheidung“.

Was ist daran lernen? Diesseits grundsätzlicher Überlegungen über den Sinn und Unsinn von Kriegen das Folgende: Seien Sie skeptisch gegenüber den Empfehlungen sogenannter „Experten“, die den großen Überblick zu haben den Anspruch verkünden und Maßnahmen umgesetzt sehen wollen, die, sofern sie schiefgehen, gewaltige Übel hervorrufen! Nicht umsonst wird die große Schweinetötung auch als „Professorenschlachtung“ bezeichnet – zu (zweifelhaften) Ehren jener, die sie empfohlen haben.

Und: Es ist aus handlungslogischen und epistemologischen Gründen weit wahrscheinlicher, daß derart gewaltige Pläne fehlschlagen, als daß sie funktionieren. Es gibt schlechterdings viel zu viele Sachverhalte, die berücksichtigt werden müssen, und außerdem viel zu viele Relationen, Spannungen etc. zwischen diesen Sachverhalten. Kein Geringerer als Friedrich August von Hayek spricht in diesem Zusammenhang von „The Pretence of Knowledge“ – vom So-Tun-als-ob-man-Wissen-besäße der „Experten“.

(Das Wort Thomas Manns finden Sie im letzten Absatz seines Romans Der Zauberberg. Beitragsbild: Unsplash.com.)

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Mikołaj Zieleński: Magnificat

Wie das Magnificat von Mikołaj Zieleński (gest. nach 1615) aufzuführen – und nicht aufzuführen – sei, erfahren Sie in diesem Film von knapp drei Viertelstunden Länge. In polnischer Sprache mit englischen Untertiteln. Es lohnt sich!

Von allen guten Geistern verlassen? Paul Kengors „The Devil and Karl Marx“
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Von allen guten Geistern verlassen? Paul Kengors „The Devil and Karl Marx“

Orbis Linguarum 55 (2021) – PDF

Paul Kengor eröffnet das erste Kapitel seines Buches The Devil and Karl Marx, indem er den Beginn des Kommunistischen Manifests in englischer Übersetzung zitiert. Er kündigt diesen Beginn als „so passend, daß es gruseln macht,“ („eerily apt“) an:

The opening lines of the Communist Manifesto could not have been more eerily apt: “A specter is haunting Europe – the specter of communism,” wrote Karl Marx and Friedrich Engels in 1848. “All the powers of old Europe have entered into a holy alliance to exorcise this specter: Pope and Tsar, Metternich and Guizot, French Radicals and German police-spies.[1]

Der Teufel und Karl Marx, die Heilige Allianz, ein Exorzismus – diese Elemente schlagen die Tonart eines Buches an, das profunde Kommunismus-Kritik von einem katholischen Standpunkt leisten möchte. Nur unterläuft Kengor in der gegebenen Passage ein handwerklicher Fehler. Er zitiert die Übersetzung, ohne das deutsche Original geprüft zu haben. Dort findet sich kein Wort vom Exorzismus, keine Heilige Allianz, sondern eine Treibjagd-Metapher: 

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.[2]

Hier wirkt nichts mehr „eerily apt“, und damit fällt die fanfarenhaft angelegte Eröffnung des ersten Kapitels in sich zusammen. Bespricht Kengor im zweiten Kapitel Marx‘ Gedichte in englischer Übersetzung, ohne das deutsche Original anzuführen, leidet die Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen unter dem bedenklichen Eindruck, den die Introduktion in das erste Kapitel hervorgerufen hat. Kann man sich auf diese Übersetzungen verlassen? Kurioserweise wird das einzige im deutschen Original zitierte Gedicht konsequent ohne Umlaute (und mit einem weiteren Fehler) wiedergegeben; es handelt sich um acht auf Karl Marx gemünzte Verse von Friedrich Engels, deren erster lautet: „Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestum [sic!]“.[3]
Über Kengors Interpretation der Marxschen Gedichte ist nicht viel zu sagen. Weit interessanter wirkt sein Umgang mit zwei Dichtern, die Marx‘ Landsleute waren: Goethe und Heine.

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Die Propaganda in der Propaganda
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Die Propaganda in der Propaganda

Das DDR-Schulbuch „Staatsbürgerkunde 8“ aus dem Jahre 1984, erschienen bei „Volk und Wissen Volkseigener Verlag“, enthält drei Teile: 1. „Sozialistischer Staat und sozialistische Demokratie“, 2. „Grundlegende Rechte und Pflichten der Staatsbürger in der Deutschen Demokratischen Republik“, 3. „Die sozialistische DDR und die imperialistische BRD – zwei Staaten mit gegensätzlicher gesellschaftlicher Ordnung“.

Im dritten Teil kommen zwei Ereignisse zur Sprache, die aus Sicht der damaligen Staatsführung, aber auch aller anderen überzeugten Kommunisten einen Dorn im eigenen Weltbild darstellen: der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und der Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961. Wenn der Sozialismus so herrlich war, wieso sperrten sich die Leute dagegen?

Die Lösung:

In zäher, intensiver Arbeit hatte man in der BRD und in Westberlin, in Washington, London und Paris den „Tag X“ vorbereitet – jenen Tag, an dem die DDR vernichtet werden sollte. […] Am 17. Juni 1953 drangen Provokateure in die DDR ein und gewannen in Berlin, Leipzig, Halle und einigen anderen Städten der DDR Gruppen von Werktätigen zum Streik. (S. 98-99, meine Hervorhebung)

Soweit das James-Bond-Szenario für den 17. Juni. Die Erklärung für den Mauerbau 1961 funktioniert ähnlich:

In einem Blitzkrieg sollte die DDR überrollt werden, nachdem aus Westberlin eingeschleuste Konterrevolutionäre einen Putsch organisiert und eine „neue Regierung“ ausgerufen hätten. (S. 99, meine Hervorhebung)

Das also sollte der Mauerbau verhindern. So weit, so grotesk. Nicht ernstzunehmen. Oder doch?

Denn der Text des Schulbuchs enthält einen Propaganda-Kniff der besonderen Art; er suggeriert, daß viele derjenigen, welche Sozialismus oder Kommunismus ablehnen, Nazis unterstützen oder billigend in Kauf nehmen, daß Nazis ungestraft Verbrechen begehen können. So 1953:

In einigen Fällen wurden faschistische Kriegsverbrecher, die in Strafanstalten der DDR ihre gerechte Strafe verbüßten, aus den Gefängnissen geholt. Sie hetzten die Massen zum Mord an Volkspolizisten und Parteifunktionären auf. (S. 99)

Für das Jahr 1961 wird mit der Unterstellung, daß die Westalliierten zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland nicht irgendeinen Krieg, sondern einen „Blitzkrieg“ gegen die DDR geplant hätten, die Idee nahegelegt, daß der „Imperialismus“ – die freien Staaten des Westens – in irgendeiner Weise das Werk der Nazis fortsetze.

Beides ist natürlich Unsinn. Wer für die Freiheit und folglich (u.a.) gegen Sozialismus und Kommunismus eintritt, hat keinerlei Interesse daran, einen mörderischen Kollektivismus durch einen anderen, noch abscheulicheren Kollektivismus zu ersetzen.

Wir erkennen die Propaganda in der Propaganda.

Bild: Pixabay.

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Armut-Reduktion

Blauer Kasten: 2018 lebten annähernd 1,25 Milliarden weniger Menschen in extremer Armut als 1981 – 653 Millionen (2018) im Vergleich zu 1,9 Milliarden (1981).

Im Rahmen der Graphik: In extremer Armut lebt, wer max. 1,90 US-Dollar pro Tag ausgeben kann (angeglichen an die Kaufkraft eines US-Dollars im Jahr 2011).

Text ganz oben: Dies ist die erstaunliche Verringerung der weltweiten Armut um 80%. Im Jahr 1981 lebten 42,3% der Menschen in Armut, 2018 8,6% Es brauchte wahrscheinlich 1000 Jahre, um den Anteil der Armen von 84% auf 42% im Jahr 1981 zu halbieren, dann 24 Jahre, um ihn auf 21% im Jahr 2005 zu verringen, und dann nur noch 10 Jahre, diesen Wert erneut zu halbieren – auf 10% im Jahr 2015.

„Nein, nein! das kann nicht seyn!“ (Wolfgang Amadeus Mozart & Emanuel Schikaneder, Die Zauberflöte, erster Aufzug, erster Auftritt)

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Tu quoque, Freundchen!

Der Soziologe Helmut Schoeck schreibt in seinem Buch Das Recht auf Ungleichheit, veröffentlicht vor rund vierzig Jahren:

Der Anarchist im 19. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg mußte nach Möglichkeit ein gekröntes Haupt ermorden. Seine Feindliste war eine verhältnismäßig kleine Zahl von an sich gut schützbaren Personen. Für den Terroristen der letzten 10 Jahre [d.i. seit etwa 1970] ist aber durch die Gesellschaftskritik der Neuen Linken die Opferliste, das Feindbild ungewöhnlich ausgeweitet worden. Alle Formen der Linken, von der gemäßigten bis zur extremen, haben seit rund 20 Jahren durch ihre gemeinsame Diffamierung der sogenannten Mittelklassengesellschaft, der „Wohlstandsgesellschaft“, der „Konsumgesellschaft“, die Ziele für Anarchisten und Terroristen vervielfacht. Es gibt seit einigen Jahren praktisch unzählige Personen und Institutionen, die sich ein Terrorist als Ziel aussuchen kann, unter Beibehaltung eines guten Gewissens aus seiner Sicht der Dinge. So ziemlich jeder Einwohner eines nördlichen Industrielandes, den man als angeblichen Ausbeuter der Dritten Welt seit 20 Jahren diffamiert hat, läßt sich guten Gewissens stellvertretend für die reichen Industrieländer wegen seiner sogenannten Verbrechen an der Dritten Welt hinrichten.

Helmut Schoeck, Das Recht auf Ungleichheit, München u. Berlin 1979, S.258-259. Zitiert nach der 2. Auflage 1980.