„Hallo!“ Über verbalen Egalitarismus

„Hallo!“ Über verbalen Egalitarismus

Es ist mir nicht erinnerlich, wann die Deutschen begonnen haben, sich der Wendung “Guten Tag” zu entledigen.

In Niedersachsen jedenfalls wirkt man inzwischen über die Maßen förmlich, wenn man wagt, etwas anderes als “Hallo!” zu sagen. “Hallo!” hört man von der ältlichen Bäckersfrau, “Hallo-ho!” flötet die gutgelaunte Fleischerei-Fachverkäuferin, ein sachlich-zuversichtliches “Hallo!” weiß der Oberarzt anzubringen. Als seien wir alle eine große Familie  – von Störenfrieden wie Thilo Sarrazin abgesehen.

Vor sechsundachzig Jahren stellte der Philosoph Helmut Plessner fest: “Das Idol dieses Zeitalters ist die Gemeinschaft.” (Die Grenzen der Gemeinschaft, Bonn 1924, S. 26) Daran hat sich nichts geändert. Eher im Gegenteil; mit jener Unbedingtheit, die den Gegenstand der Plessnerschen Studie bildet, wühlen wir uns immer tiefer in die Gleichheit hinein. Wenigstens, was das Äußerliche angeht.

Denn daß aus dergleichen Träumen nichts werden kann, die Gesellschaft ebendasjenige ist, was sie ist: Gesellschaft nämlich, und nicht Gemeinschaft, wollen viele unter uns nicht einsehen. Dabei bräuchten sie nur zu verstehen, daß die “kalte” Gesellschaft Raum für viele kleine und größere Gemeinschaften bietet, – wie deutlich, doch in schrecklich verklausulierter Sprache Rainer Forst in seinem Buch Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1994, zeigt -, sich zurückzulehnen und die nachstehende Anekdote zu genießen, die der tapfere Helmut Schoeck mitteilt:

Die den Europäer, je nach dem Grad seiner egalitären Sehnsüchte, so erstaunende oder beglückende Vertraulichkeit der Anrede im amerikanischen Alltag hat […] ihre Grenzen. Aber an solche denkt die Jugend ja ungern. Ehe sie jedoch von den Äußerlichkeiten einer vermeintlich enthierarchisierten Gesellschaft sich die Heilung aller zwischenmenschlichen Probleme verspricht, sei erwähnt, daß auch der vor seinem Richter stehende Kandidat für den elektrischen Stuhl zu hören bekam: “I am sorry, Al, but I have to send you to the chair.”

(Helmut Schoeck, Die Lust am schlechten Gewissen, Freiburg i. Brsg. 1973, S. 77.)