Götz Aly ist
einer der bekanntesten deutschen Historiker, die über die Entrechtung,
Ausplünderung und Ermordung der europäischen Juden forschen. Der vorliegende
Aufsatz beschäftigt sich mit einigen jüngeren Veröffentlichungen Alys, angefangen
mit der 2005 publizierten Studie Hitlers
Volksstaat, die aufzeigt, welche Vorteile der gewöhnliche Volksgenosse von
‚Vater Staat‘ unter den Nationalsozialisten erwarten durfte. Sodann werden die
Bücher Warum die Deutschen? Warum die
Juden? (2011) und Europa gegen die
Juden. 1880-1933 (2017) besprochen. Beide Werke fragen nach den
Vorbedingungen des Holocaust, soweit Moral und Ethik, sozialpolitische und
solche Maßnahmen in Rede stehen, die der Schaffung möglichst homogener Nationalstaaten
verpflichtet sind (vgl. Aly, Europa, 2017, S. 375-376). Während das 2011
erschienene Buch sich auf den deutschen Sprachraum konzentriert, erweitert die
2017 publizierte Studie den Blick auf verschiedene Staaten Mittel- und
Ostmitteleuropas.
Die drei genannten
Buchveröffentlichungen bilden ein Forschungsprogramm im Sinne Imre Lakatos’,
dessen „harter Kern“ (Lakatos, Methodologie, 1982, S. 47-49) sich wie folgt formulieren
ließe: Aly fragt nach den greif- oder zählbaren Vorteilen, in deren Genuß eine Mehrheitsbevölkerung
kommt, wenn der Staat eine Minderheit (oder mehrere Minderheiten) drangsaliert.
Aly folgend, erklären
diese Vorteile die erstaunliche Loyalität, welche die meisten Deutschen der
nationalsozialistischen Führung entgegenbrachten, sie die massenhaften
Verbrechen, von denen sie wußten oder ahnten, tolerieren ließen, sofern sie
nicht selbst an den Greueltaten teilhatten. Alys Ansatz erlaubt ihm zudem,
gewisse Sachzwänge der Hitlerschen „Gefälligkeitsdiktatur“, „jederzeit
mehrheitsfähigen Zustimmungsdiktatur“ (Aly, Volksstaat, 2006, S. 36, 333) mit
ihren vielfältigen Steuervergünstigungen, finanziellen und Sachleistungen für Geringverdiener,
die keiner der als ‚minderwertig‘ klassifizierten Bevölkerungsgruppen angehören,
auszumachen und als historischen Erklärungsansatz zu formulieren (ebd., S. 37,
51, 68, 70-71, 141-158, 325, 392). Dazu zählt die Unausweichlichkeit immer
weiterer Eroberungen (ebd., S. 355), um auch die dortige Bevölkerung ihrer
Lebensmittel und -grundlagen berauben zu können, der Raubmord an den
europäischen Juden und das geplante Verhungern-Lassen von Millionen Menschen im
Osten des Kontinents.
Alys Bücher pflegen teils heftige Reaktionen hervorzurufen. Unter diesen Reaktionen sollen im Folgenden besonders diejenigen interessieren, welche sich außerhalb der eigentlichen Fachdiskussion bewegen: jene also, die in den Feuilletons der großen Zeitungen und Zeitschriften und in sonstigen Stellungnahmen im weiteren Sinne politischer Natur zu finden sind. Denn Alys Forschungsprogramm hat einen Nebeneffekt. Es läßt nicht nur auf die verbrecherische „Gefälligkeitsdiktatur“ der NSDAP, sondern auf sämtliche Gemeinwesen anwenden, über die konstatiert werden darf, daß der fürsorgliche Staat seine Sozial- und sonstigen Programme auf Kosten einer Minderheit oder Fremder finanziere, während die Mehrheit seiner Bürger nicht danach frage – oder lieber nicht danach fragen wolle –, wo der Segen herkommt. Der „harte Kern“ von Alys Forschungsprogramm, der eine gewinnbringende Analyse und Kritik des nationalen Sozialismus im Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945 ermöglicht, ermöglicht ebenfalls die Analyse und Kritik anderer Ausprägungen des Sozialismus oder Nationalismus. Dieser Umstand erklärt die Heftigkeit einiger der unten diskutierten Reaktionen auf Alys Werk, wie der Historiker im Nachwort zur Taschenbuchausgabe von Hitlers Volksstaat hinsichtlich des Sozialismus selbst vermutet (Aly, Volksstaat, 2006, 371-372; zum Verhältnis beider Ideologien Aly, Europa, 2017, S. 350).
Mehr in: Studia Niemcoznawcze / Studien zur Deutschkunde (Universität Warschau), Bd. LXII (2018), S. 89-101. Volltext als PDF verfügbar („SN62“).