Die Schafe in den Straßen Londons

Die Schafe in den Straßen Londons

 

Lee Rigby, R.I.P.

Sie erinnern sich an diesen alten Greenpeace-Slogan? Er zierte dereinst jedes dreißigste Fahrzeug in der (alten) Bundesrepublik Deutschland, Türen, Einrichtungsgegenstände, Textilien usw. Sein Gehalt indianischer Weisheit war nicht diskutierbar. Jedenfalls habe ich nicht erlebt, daß er angezweifelt worden wäre. (Dabei waren wir so stolz, „kritisch“ zu sein. Drollig, nicht wahr?)

Erst wenn der letzte Baum gerodet, 
der letzte Fluss vergiftet,
der letzte Fisch gefangen wird,
werdet ihr feststellen, daß man Geld nicht essen kann.

Nachdem am 22. Mai 2013 der britische Soldat Lee Rigby ermordet worden war, machten einige amerikanische Kommentatoren auf etwas aufmerksam, das in der europäischen Diskussion, wie diese Morde zu „interpretieren“ seien, unterzugehen droht(e). Sie vermerkten mit Bestürzung, daß alle dort anwesenden, einige Dutzend Schritte entfernt stehenden Männer nichts getan hatten, um Rigby zu retten. Kein Mann schritt ein. Deshalb verdienten jene (männlichen) Briten es, so eine der Stimmen aus den Vereinigten Staaten, als „Schafe in den Straßen Londons“ bezeichnet zu werden.

Es geht mir nicht um Briten-Bashing, denn ich mag das Land und sehe dessen Niedergang mit Bedauern. Ich möchte das Augenmerk auf etwas anderes lenken: Das Gesetz der unintendierten (ungeahnten und/oder ungewollten) Folgen menschlichen Handelns.

Weiter
|

Helmut Schoeck: Neid vs. Freiheit

Studia Neofilologiczne VII (2011), S. 105-114

In diesem Jahr wäre der 1922 in Graz geborene Soziologe Helmut Schoeck neunzig Jahre alt geworden. Wer ist dieser von Karl Popper und Friedrich August von Hayek geschätzte Denker, und warum lohnt es, sich seiner zu erinnern?

I

Schoecks Hauptwerk heißt Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft. Die monumentale Abhandlung dürfte die wichtigste Veröffentlichung zum titelgebenden Thema sein, seitdem Max Scheler seinen berühmten Aufsatz über das Ressentiment veröffentlicht hat. In der Tat bildet die Arbeit des jüngeren Gelehrten eine kritische Fortschreibung dessen, was der ältere geleistet hat. Schoeck vermeidet einige der weniger glücklichen Entscheidungen, die Scheler in methodischer Hinsicht getroffen hat – etwa die Rede von Vitaltypen[1] –, und erweitert den Gegenstandsbereich seiner Theorie: Sein Interesse gilt nicht einer durch vielfaches Wiederholen zum Charakterzug geronnenen Haltung,[2] sondern einem Motiv, welches hinter einzelnen Handlungen vermutet werden kann, wenn andere Erklärungsfaktoren versagen. Damit gelingt Schoeck eine in ihren  Voraussetzungen „schlankere“ Theorie. Sie kommt im Vergleich zur Schelerschen mit einem Weniger an Metaphysik aus. Und öffnet sich desto mehr der Empirie, während sie die von Scheler erfaßten Phänomene als Unterfall enthält.

So besteht einer der bemerkenswertesten Züge des Schoeckschen Hauptwerkes in dessen Einbeziehung kulturanthropologischer oder völkerkundlicher Forschungsergebnisse. Während seiner Lektüre wird deutlich, daß viele Handlungsweisen und Motivationen, die zumeist als kennzeichnend für die westliche oder „moderne“ Zivilisation begriffen und nicht selten inkriminiert werden, auch in außereuropäischen und vormodernen Kulturen angetroffen werden können. Diese im einzelnen immer wieder überraschende Perspektive veranlaßt dazu, landläufige Einstellungen jenen Erscheinungen gegenüber zu überdenken, Wertungen zu überprüfen. Auf diese Weise vermag Schoeck, durch faktenreiche, empirischer Kritik zugängliche Argumente für seinen Standpunkt zu werben, ohne – wie Scheler – auf den beispielhaft verbindlichen Charakter seines Wertgefühls und ein gerüttelt Maß Rhetorik zu bauen.[3] Hören wir ein Beispiel:

Eine der merkwürdigsten Institutionen des Neides, zugleich aber eine, die große Ähnlichkeit mit dem heutigen Gefühlskomplex „soziale Gerechtigkeit“ aufweist, ist der Muru-Überfall bei den Maori auf Neuseeland. […]

Das Maori-Wort muru heißt an sich plündern, und zwar das Besitztum solcher, die sich gegen die Gemeinschaft irgend etwas hatten zuschulden kommen lassen. Dagegen wäre in einer Gesellschaft ohne Justizapparat nichts einzuwenden. Nachdenklicher macht erst das Verzeichnis der „Verbrechen gegen die Gesellschaft“, die mit Muru-Überfällen geahndet wurden. Ein Mann, der einen des Plünderns durch die Gesellschaft lohnenden Besitz hatte, konnte sicher mit muru rechnen, selbst wenn ein noch so entfernt Verwandter von ihm sich irgend etwas zuschulden kommen ließ. Ähnliches ließ sich ja auch in Europa während der Hexenprozesse beobachten. […]

Der Mann, dessen Frau Ehebruch beging, die Freunde eines Mannes, der gestorben war, der Vater eines Kindes, das verunglückte, […] für dies und Hunderte von Gründen konnte der einzelne um seinen Besitz kommen, einschließlich seiner Ernte und seiner Lebensmittelvorräte. Genauso wie es in Amerika aber heute Personen gibt, die stolz auf die hohe Einkommenssteuer sind, die sie zahlen müssen, scheint es Maori gegeben zu haben, die den Muru-Überfall als Auszeichnung, als ein Zeichen des beneidenswerten hohen Ansehens betrachteten.[4]

Die geographischen Sprünge von Neuseeland nach Europa und in die Vereinigten Staaten von Amerika wirken inspirierend, und die zeitliche Perspektive trägt das Ihrige dazu bei: Was im Europa der frühen Neuzeit geschehen, ist auf Neuseeland bis ins neunzehnte Jahrhundert vorgekommen, und wie in den USA unserer Tage haben manche versucht, dem bösen Spiel etwas Gutes abzugewinnen. Sollte Schoecks meisterhafte Darstellung angemessen sein, eröffnet sie einen unverstellten Blick auf die conditio humana, – der zudem die Maori in äußerst sympathischer Weise als Menschen ernstnimmt („de-exotisiert“). Wir erkennen, was Kulturforschung leisten kann, wo sie den Dogmen des Multikulturalismus (noch) nicht unterliegt.

II

Worauf will Schoeck mit seinem kulturanthropologischen Panoptikum hinaus? Auf eine staatsphilosophische Nutzanwendung von höchster Relevanz. Für Schoeck nämlich besteht der „eigentliche Irrtum des Sozialismus“[5] und zugleich das „wirklich Tragische am sozialistischen Ideengut“[6] in der Hoffnung, man könne „eine Gesellschaft der vom Neid erlösten Gleichen […] schaffen.“[7] Der Sozialist (Marxist; Egalitarist usf.) versuche sich an etwas Unmöglichem; es sei darum weise, dergleichen von sich (und anderen) nicht zu verlangen.[8] Ultra posse nemo obligatur.

Schoecks Hauptwerk bildet, wie auch sein sonstiges Schaffen, somit ein Beispiel für einen Liberalismus, welcher, in der Form einem indirekten Beweise folgend, seine Kraft aus der logischen und/oder sachlichen Widerlegung antiliberaler Argumente schöpft. Ein solcher „Anti-Antiliberalismus“ stellt sicher eine der wirkungsvollsten Verteidigungen des Vernünftigen dar, welche die Staatsphilosophie in einer pluralistischen Gesellschaft aufzubieten vermag.[9]

Doch damit nicht genug. Schoeck beschreibt auch, was geschieht, wenn mit jenem „Grundirrtum“ die Natur des Neides unverstanden bleibt, der Egalitarismus zur politischen Maxime erhoben wird: „Praktisch wirkte sich die Muru-Institution so aus, daß niemand irgendein bewegliches Gut behalten konnte. Der Anreiz, durch Arbeit zu etwas zu kommen, ging verloren.“[10] Legt sich die Angst vor dem Neider wie Mehltau auf alle Handlungsvorsätze, erstarrt, was Innovation hätte schaffen können. Aus diesem Grunde wirkt jeglicher Egalitarismus fortschrittsfeindlich, was Wissenschaft, Technik (einschließlich Medizin)[11] und Wirtschaft angeht, und im Hinblick auf die schönen Künste lähmend.[12] Die Besten schweigen, stellen vorsichtshalber ihr Licht unter den Scheffel, – oder sie gehen (brain drain). Immerhin tragen sie auf diese Weise ihren Schöpfersinn in die weite Welt. So wirkt die „Flucht vor dem Neid der Nächsten […] nicht selten zivilisationsfördernd.“[13] Derzeit profitieren die Vereinigten Staaten von Amerika und Australien von diesem Mechanismus, während Europa seines Egalitarismus wegen zurückfällt. Wir erblicken einen Wettstreit, vor dem The Great Game sich wie ein Kinderspiel ausnimmt.

Schoeck versteht es, das Drama des Begabten, der sich vor (möglichen) Neidern zu rechtfertigen sucht, bewegend zu schildern. Er zitiert u.a. aus den Aufzeichnungen des bekannten Schweizer Seelenarztes und Autors Paul Tournier, wie dieser sich mit seiner Steuererklärung auf den Weg zu einer Gruppe von Arbeitern gemacht hat, um sich eine Kreuzfahrt „sozial erlauben“ zu lassen, und, nachdem diese Hürde genommen, sogleich den nächsten Anlaß zu schuldhafter Zerknirschung findet: Den Hunger in der Dritten Welt.[14] Bezeichnenderweise ist sich Tournier über die Haltlosigkeit seiner Selbstvorwürfe im Klaren – wir werden im nächsten Abschnitt darauf zurückkommen –; doch findet er keinen Ausweg. Schoeck spricht in diesem Zusammenhang vom „Masochismus des Abendländers“,[15] einer Haltung, die, wie er an anderem Ort anschaulich belegt, durchaus ihren Nutzen bringt. Nachdem der Soziologe einen „sozial engagierten“ Schriftsteller aus begütertem Hause auf die Gegenstandslosigkeit gewisser Vorwürfe gegen dessen Familie von Fabrikanten aufmerksam gemacht hatte, entgegnete dieser: „Rauben Sie mir nicht die Tränen meiner Kindheit!“[16] Schoeck hält es seitdem für „klar, daß der Schmerz des schlechten Gewissens, und das damit erzeugte Gefühl, ein guter Mensch zu sein, eine Investition im eigenen Gemüt bildet, die man ungern aufgibt, selbst wenn man die Falschheit der Gründe für das schlechte Gewissen voll begriffen hat.“[17] Die Psychologie des „Gutmenschen“ (Globalisierungskritikers, Klimaschützers, Gentechnik-Bekämpfers etc.) ist uns seit langem vertraut.

III

Ins Positive gewendet, bedeutet Schoecks These über den Zusammenhang von Neid, Egalitarismus und Stagnation: „Je mehr es in einer Gesellschaft den Privatleuten wie den Trägern der politischen Macht möglich ist, so zu handeln, als ob es keinen Neid gäbe, desto größer wird das wirtschaftliche Wachstum und die Zahl der Neuerungen im allgemeinen sein.“[18] Wissenschaft, Kultur, Technik und Künste (einschließlich Handwerk) werden dort am wenigsten in ihrer Entfaltung gehemmt,

wo das offizielle normative System, das Brauchtum, die Religion und die Alltagsweisheit und die öffentliche Meinung sich ziemlich einmütig so eingestellt haben, als ob man auf die Neider keine Rücksicht zu nehmen brauche. Es handelt sich dabei um eine den meisten Mitgliedern einer solchen Gesellschaft geläufige Überzeugung, die es erlaubt, mit den beobachtbaren Unterschieden zwischen den Menschen realistisch und ohne zuviel nagenden Neid fertigzuwerden, um eine […] Gesinnung also, die es ihrerseits dem Gesetzgeber und der politischen Macht erlaubt, die ungleichen Errungenschaften der Mitglieder des Gemeinwesens gleichmäßig zu schützen, aber unter Umständen ungleichmäßig zu fördern.[19]

Natürlich werde, so Schoeck, dieses Gleichgewicht auf Erden bloß annäherungsweise erreicht.

Die gegebene Passage berührt sich in drei Punkten mit den Auffassungen Friedrich August von Hayeks: (i) Wie der Hinweis auf die unter Umständen ungleichmäßige Förderung zeigt, läßt Schoeck u.a. eine besondere Unterstützung für die Ärmsten in der Gesellschaft zu; dies entspricht Hayeks positiver Haltung einer Grundsicherung gegenüber, wie sie in dessen The Road to Serfdom Ausdruck findet.[20] (ii) Des weiteren zeugt die Nennung der Religion von der Nähe der beiden Standpunkte. Hayek warnt vor dem „rationalistischen“ Mißverständnis, man könne ein Moralsystem wie jenes, auf dem die westliche Zivilisation beruht, aus einer oder sehr wenigen Grundannahmen herleiten[21] und betont die Rolle, welche der Religion für dessen Entstehen und Erhaltung zukommt.[22] Auch Schoeck hebt die Religion als Mittel zur Neidbewältigung hervor.[23] Gleichzeitig enthält er sich im Sinne Hayeks „rationalistischer“ Vorschläge, wie mit dem Neide umzugehen sei, bewegt sich in vorgefundenen, „gewachsenen“ Moralen. (iii) Schließlich gleichen sich die Theorien beider Denker auch darin, daß sie kulturelle Evolution in einer Manier abbilden, die beeindruckt. Auf diesen Zug der Schoeckschen Theorie wurde im vorigen Abschnitt durch das Wort „Wettstreit“ hingewiesen. Hayek legt eine sehr umfassende Theorie kultureller Evolution vor, die – landläufigen Klischees über liberales Denken zuwider – nicht darwinistisch ist, obgleich sie von Gruppenselektion spricht; allenfalls läßt sie sich im Anschluß an Karl Popper als Quasi-Lamarckismus bezeichnen,[24] in dem, wie von Charles S. Peirce angemahnt, liebende, selbstlose Zuwendung (Agapasmus) eine bedeutende Rolle spielt.[25]

Der evolutionäre Zugang erlaubt Schoeck, die unterschiedlichen Geschicke „erster“ und „dritter“ Welt in nicht-ideologischer Weise zu erfassen. Sein Hauptwerk präsentiert reichhaltiges Material aus den Arbeiten von Kulturanthropologen und Völkerkundlern, welches deutlich macht, wie sehr die Menschen innerhalb und außerhalb des Westens ihres Glückes Schmied gewesen und es weiterhin sind. So gibt es in weiten Gebieten der Welt eine „Neidschranke“.[26] Sie ist magisch bewehrt; der Tüchtige und/oder Glückliche fürchtet sich vor dem „bösen Blick“ oder anderen Formen des Schadenzaubers, den Neider ausüben.[27] Außerdem wird ihm selbst unterstellt, durch nicht-redliche, jenseitige Mittel sein überdurchschnittliches Talent oder seinen Wohlstand  erworben zu haben: „Ein frühreifes, aufgewecktes Kind bei den Lovedu gilt als künftige Hexe.“[28] Aus alledem entsteht Furcht vor dem Erfolg. Entwicklung wird verhindert.[29]

Wie Schoecks Beispiele mannigfach verdeutlichen, ist Afrika nicht deshalb arm, weil es vom industrialisierten Norden „ausgebeutet“ werde. Europas Kultur hat die Neidschranke überwinden – oder wenigstens in entscheidender Weise mildern können, die Bildung dynamischer, stets voranschreitender Konkurrenzgesellschaften ermöglicht.[30] Der „dritten Welt“ ist dergleichen nicht gelungen; die dortigen Gesellschaften sind statisch geblieben. Diesen Sachverhalt mag man im Westen bedauern, doch liegt er außerhalb westlicher Verantwortung. Es besteht kein Grund für ein schlechtes Gewissen à la Tournier; Schoeck stellt das Gegengift bereit.

IV

Neid ist unstillbar. Wo ein Anlaß erlischt, sucht er sich den nächsten. Diesen Umstand verdeutlicht Schoeck – wiederum kompositorisch brillant –, indem er auf die Kibbuzim in Israel hinweist. Von Idealisten erschaffen, einem konsequenten Egalitarismus verpflichtet, der die Abschaffung des Privateigentums einschließt, wird in diesen Experimentalsiedlungen schließlich derjenige beneidet, welcher gern allein ist, um einem besonderen Interesse zu frönen.[31] Folglich muß der Einzelne seinen Neid je für sich besiegen; durch Willensanstrengung und Übung. Religion kann, wie schon bemerkt, dazu beitragen. Aber auch der Beistand von Verwandten und Bekannten: „Helena Morley, Pseudonym für Senhora Augusto Mario Caldeira Brant, Gattin eines führenden Mannes in Rio de Janeiro, […] berichtet aus ihrer Kindheit: ‚Als ich klein war, litt ich sehr unter dem Neid. Dafür bin ich meiner Großmutter dankbar. Sie half mir aus dem Neid.’“[32] Entferntere Vorbilder dürften ein Übriges tun.

Das Motiv fremder Hilfe zur Neidüberwindung enthält auch ein Roman Eugène Sues. Schoeck widmet diesem Stück Literatur besondere Aufmerksamkeit, weil dessen Autor den Zorn von Karl Marx hervorgerufen hat:

Sue führt uns eine vollständige Psychotherapie eines Neiders vor. […] Der Dialog, in dem David seinen Schüler dazu bringt, den Neid in ein Gefühl des Ansporns zu verwandeln und es auf den ihm möglichen Gebieten dem Marquis gleichzutun, bietet eine Weltanschauung, die jedem Sozialrevolutionär ein Greuel sein muß. Es ist […] die Überzeugung, daß am Status quo alles in Ordnung sei […]. Jeder könne etwas aus sich und seinem Leben machen, wenn er nur wolle. Und niemandem sei geholfen, wenn man lediglich die obere Schicht enteigne oder vernichte. Es überrascht deshalb nicht, daß Georg Lukács auf die beißende Kritik von Karl Marx an Eugène Sue hinweisen kann: Sue habe sich „feig der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft angepaßt … aus Opportunismus die Wirklichkeit verzerrt und verfälscht“.[33]

Damit erreichen wir eine Wasserscheide. Die Standpunkte Marx’ und Sues schließen einander aus; sie sind unversöhnlich. Für Schoeck zeigt sich hier eine Kulturrevolution, deren Bekämpfung er die verbleibenden Jahre seines Lebens gewidmet hat. Die Moderne habe mit dem Neunten und Zehnten Gebot die Grundlagen von Juden- und Christentum aufgegeben und sei zur „Weisheit“ der Naturvölker zurückgekehrt: Wo beneidet wird, wird nicht mehr der Neider, sondern der Beneidete beschuldigt.[34] Es liegt Ironie darin; was sozialistische Intellektuelle verbreiten, mutet aus Schoeckscher Perspektive weniger fortschrittlich, denn reaktionär an.[35]

Schoeck hat in einer Fülle von kleineren und größeren Schriften gegen diesen „Umsturz der Werte“ (Scheler) angekämpft. Sie beziehen sich zum größeren Teil auf einzelne Vorgänge oder Äußerungen aus Politik, Kultur und gesellschaftlichem Leben, die inzwischen weniger prominente Einträge in den Annalen der Zeitgeschichte ausmachen. So läßt sich an ihnen manches über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (und anderer Staaten) – und auch manches Prinzipielle lernen. Daß dabei sowohl Schoecks Standpunkt, als auch seine Sprache sich von dem unterscheidet, was unserer Tage in der politischen Diskussion Deutschlands den Ton angibt, erhöht den Reiz solcher Lektüre in nicht unbeträchtlicher Weise.

Eines seiner schmaleren Bücher widmet sich dem Werte-Umbruch, wie er in Schulbüchern zu beobachten ist. Es ist zunächst unter dem Titel Schülermanipulation erschienen,[36] später in einer erweiterten Neuausgabe als Kinderverstörung, von Karl Popper mit großem Nachdruck empfohlen.[37] Schoeck unterstellt darin den Verfassern „fortschrittlicher“ Schulbücher die Absicht, „eine Generation haßerfüllter Neider heranzuziehen, die mit dem bestem Gewissen der Welt jeden, der durch Glück und Zufall ihnen etwas voraus hat, vernichten wollen.“[38] Man möchte dergleichen für übertrieben halten, doch überzeugen die im Verlaufe der kleinen Schrift aufgebotenen Zitate aus Kinder- und Schulbüchern, sowie Lehrerhandbüchern (teils zu jenen Schulbüchern, teils allgemeinerer Natur) vom Gegenteil. Außerdem läßt sich eine Probe aufs Exempel machen. Wer in den achtziger Jahren ein westdeutsches Gymnasium besucht hat, kann seine Schulbücher aus dem Keller holen, um sie mit den Schulbüchern älterer Verwandter zu vergleichen. Ein solcher Vergleich bestätigt Schoecks Diagnose, soweit die bescheidenen Mittel des Verfassers blicken lassen. Während das ältere Buch eine neidfreie Haltung und tätige Zuversicht empfiehlt,[39] fehlt diese Lehre im neueren Lehrwerk; dort wird anläßlich des Themas „Mündig werden“ zum Neid auf die Eltern angestachelt,[40] wo nicht zur Furcht vor dem Beneidet-Werden angehalten wird.[41] Sein Kapitel „Lebensläufe“ enthält keinen einzigen Text, welcher davon berichtet, daß jemand durch Talent und harte, ehrliche Arbeit etwas aus sich gemacht hätte, wie von Sue als Gegengift wider den Neid empfohlen.[42]

V

Unter den Diagnosen, die Schoeck während seines Kulturkampfes trifft, wirken viele wie Vorwegnahmen.

Der Soziologe warnte bereits in den 1970er Jahren vor einer Aufweichung des Leistungsprinzips in Bildung und Arbeitswelt. Die „Entschulung der Schule“,[43] die Senkung der Standards im Rahmen „emanzipatorischer“ Pädagogik, schaffe nichts Gutes, allenfalls „ein Heer von unbeschäftigbaren jungen Menschen, eine Wirtschaft, die weder dynamische Renten noch regelmäßige Reallohnsteigerungen ermöglicht“.[44] Flankiert werde diese Bewegung durch eine „Verschulung der Gesellschaft“, die vor allem eine sich verbreitende Unselbständigkeit aufzeige und weiter befördere: Während man früher selbst etwas aus sich gemacht habe, erwarte man heute, daß dies von einer Institution – also von außen – geleistet werde.[45] Im Jahre 2011 produziert die deutsche „Beschulungsbürokratie“[46] Schulabgänger, deren Wissen, sofern sie überhaupt zu lesen und schreiben vermögen, nicht an das früherer Schülergenerationen heranreicht. Die sprichwörtliche Hartz-IV-Gesellschaft besteht nur noch zum Bruchteil aus Arbeitswilligen, welche – ein Bruchteil vom Bruchteil – die notwendigen Fertigkeiten erworben haben; dies alles geschieht im Einvernehmen mit einer sowohl profitierenden, als auch den Niedergang weiter verstärkenden Betreuungsbürokratie.[47] Über diejenigen, welche diese beiden Fehlentwicklungen in Wort und/oder Tat vorantreiben, bemerkte der Soziologe, Schelers Kritik am Typus (nicht „Vitaltypus“) des „sozial“ Engagierten aufnehmend,[48] bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert:

Zu den erstaunlichsten sittlichen Perversionen unserer Zeit gehört ja gerade die Scheinheiligkeit, mit der sogar der berufsmäßige (und wohldotierte) Agitator, der systematische Aufwiegler neidvoller Ressentiments sich selbst als Verkörperung der volonté générale ausgeben kann, ohne sofort durch energische Kritik in Schranken gewiesen zu werden. Er argumentiert etwa wie folgt: Ich stachle den Neid der Leute auf, damit sie voller Zorn das fordern, was ich glaube, daß sie fordern sollen. Mein Kollege Ronald F. Howell, Professor für politische Theorie, pflegt diesen Auftrag in Rousseaus volonté générale so zu definieren: „General will is what the people would want if they wanted what they ought to want.“[49]

Diese Kritik reicht sehr tief; auch wenn ihre Form an ein Argument ad hominem gemahnt, weist sie auf die unheilige Allianz von Neid, Demagogentum und Despotie, sowie darauf, daß die kontinentaleuropäische Tradition es jenen Aufwieglern leichter mache, als – wie zu ergänzen wäre – ihr angelsächsischer Widerpart. Dort steht es besser um die „negative“ Freiheit des Bürgers, den Schutz des Einzelnen vor Übergriffen des Staates und/oder der Mehrheit seiner Mitbürger.

Gleichfalls bereits in den 1970er Jahren erkannte Schoeck das freiheitsfeindliche Potential übergroßer Sorge um die Umwelt, und er machte deren wissenschaftliche und philosophische Schwächen dingfest.[50] Heute kämpft Dirk Maxeiner (zusammen mit Michael Miersch und anderen) gegen die Dogmen eines zum mainstream gewordenen Ökologismus, unter dessen prominenten Vertretern einige freimütig eingestehen, die liberale Demokratie für einen Teil des Problems zu halten.[51]

Vor über fünfzig Jahren erschienen Werk beklagte Schoeck die Naivität westlicher „Kanonenbootpolitik im Rückwärtsgang“;[52] wer versuche, durch den Verzicht auf eigene Interessen und wirtschaftliche Förderung die Sympathien außerwestlicher Staaten zu gewinnen, möge sich erinnern, daß solches Handeln für gewöhnlich Undankbarkeit, Neid und Ressentiment, sowie bei jeglichem Mißlingen Schadenfreude hervorrufe.[53] Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends erleben wir einen Westen, der sich weitgehend selbst aufgegeben hat. Ohne deshalb seinen Widersachern sympathischer geworden zu sein.

Schluß

Schoeck hat seinen Krieg verloren. Er war nicht zu gewinnen – in einem Land, in dem „sich der Scharfsinn mehrerer Generationen professioneller Sozialpolitiker weniger darauf richtete, die Gesellschaft von der sozialen Prothetik der Bismarckzeit zu befreien, als diese vielmehr zu vervollständigen.“[54] Und, den überzeugenden Argumenten des Soziologen zum Trotze, weiter diesem Ziele dient. Die Bundesrepublik Deutschland zeigt sich im Jahre 2011 etatistischer, als noch vor dreißig Jahren. Auch der Egalitarismus wirkt stärker denn je. Der Ökologismus (einschließlich Klima-Sorge) feiert wildere Feste, denn vor einigen Jahrzehnten.

Man könnte diesen Sachverhalt in der Rückschau wie folgt ausdrücken: Schoecks Bemühungen zum Trotze hat Deutschland in seiner Standardtendenz verharrt; es nähert sich weiterhin „– in unpersönlicher und technisch perfekter Form – dem ‚wohlwollenden Despotismus’ des 17. und 18. Jahrhunderts.“[55] Die sich fortschrittlich gerierenden Gruppierungen der 1960er und 70er Jahre haben dazu beigetragen. Damit erweisen sie sich als Fortschreibung, nicht aber als der Bruch mit deutschen Traditionen übelträchtigen Charakters, zu welchem sie sich erklären. Wenn Ironie und Tragik sich vermählen können, erblicken wir es hier.

Schoeck wird in Deutschland wenig gelesen. „Der Neid“ läßt sich in der Originalsprache derzeit nur antiquarisch erhalten. In der angelsächsischen Welt erinnert man sich des streitbaren Soziologen öfter, wie sich per Suchmaschine belegen läßt. Eine englische Übersetzung seines Hauptwerkes steht Interessierten zur Verfügung, verlegt vom renommierten Liberty Fund in den USA.

Was würde Schoeck dazu sagen? Der Neid vertreibt die Besten, und diese tragen ihr Wissen in die Welt.

Anmerkungen

[1] Vgl. Scheler, Max: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: Scheler, Max: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Bern u. München: Francke 1972. S. 33-147, besonders S. 132 und 137.
[2] Vgl. ebd., S. 36.
[3] Der Kritische Rationalismus erkennt im Übergang von nicht-prüfbaren („metaphysischen“) zu prüfbaren, d.h. wissenschaftlichen Ausführungen einen Fortschritt. Vgl. Popper, Karl: Logik der Forschung. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1976. S. 222.
[4] Schoeck, Helmut: Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft. Freiburg im Brsg. u. München: Karl Alber 1966. S. 354. Inkonsequente Schreibung des Wortes „Muru-Überfall“ wie im Original.
[5] Ebd., S. 228, ohne Kursive.
[6] Ebd., S. 229.
[7] Ebd., S. 229. Vgl. ebd., S. 387-388.
[8] Vgl. ebd. S. 390.
[9] Vgl. Dahlmanns, Karsten: Wissenschaftslogik und Liberalismus. Mit dem Kritischen Rationalismus durch das Dickicht der Weltanschauungen. Berlin: Weidler 2009. S. 174-175.
[10] Schoeck, H.: Der Neid. S. 355.
[11] Vgl. Rand, Ayn: Capitalism. The Unknown Ideal. New York: Signet 1967. S. 172.
 
[12] Vgl. Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage. Erlenbach-Zürich u. Stuttgart: Eugen Rentsch 1966. S. 261-262.
[13] Schoeck, H.: Der Neid. S. 383.
[14] Vgl. ebd., S. 288 und 294.
[15] Ebd., S. 294, ohne Kursive.
[16] Schoeck, Helmut: Die 12 Irrtümer unseres Jahrhunderts. München u. Berlin: Herbig 1985. S. 349.
[17] Ebd., S. 349-350.
[18] Schoeck, H.: Der Neid, S. 17.
[19] Ebd.
[20] Vgl. Hayek, Friedrich August von: The Road to Serfdom. Chicago: The University of Chicago Press 2007. S. 215.
[21] Vgl. Hayek, Friedrich August von: The Fatal Conceit. The Errors of Socialism. Chicago: The University of Chicago Press 1991. S. 52.
[22] Vgl. ebd., S. 136-137.
[23] Vgl. Schoeck, H.: Der Neid. S. 147-150.
[24] Vgl. Hayek, F. A. von: The Fatal Conceit. S. 25.
[25] Vgl. Peirce, Charles Sanders: Evolutionary Love (Collected Papers of Charles Sanders Peirce 6.287-6.317). http://www.cspeirce.com/menu/library/bycsp/evolove/evolove.htm (28.05.2011).
[26] Vgl. Schoeck, H.: Der Neid. S. 58.
[27] Vgl. ebd., S. 42-47, 65 u.ö.
[28] Ebd., S. 51.
[29] Vgl. ebd., S. 68-74.
[30] In Europa lassen sich Überbleibsel von Schaden- und Gegenzauber nachweisen. Schoeck bemerkt: „In Bayern und Österreich mischen alte Bauern noch ‚Neidkraut’ im Stall ins Futter, um das Vieh vor dem ‚Verneiden’ zu schützen.“ (Ebd., S. 414.) Als der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes vor wenigen Jahren seinen Sohn im Kinderwagen durch ein Städtchen im nördlichen Kleinpolen spazierengefahren hat, ist ihm empfohlen worden, eine rote Kokarde am Kinderwagen zu befestigen; dergleichen verhindere Übel, wenn neidische Menschen auf das Kind blickten.
[31] Vgl. Schoeck, H.: Der Neid. S. 320-326.
[32] Ebd., S. 327.
[33] Ebd., S. 163.
[34] Vgl. ebd., S. 284 und 289.
[35] D’accord Hayek, F. A. von: The Fatal Conceit. S. 17-19.
[36] Vgl. Schoeck, Helmut: Schülermanipulation. Freiburg im Brsg.: Herder 1976.
[37] Vgl. Schoeck, Helmut: Kinderverstörung. Asendorf: Mut 1987. S. 4. Popper hat seine Empfehlung handschriftlich verfaßt; sie trägt das Datum „11-9-87“. Der Verfasser dankt dem Mut-Verlag in Asendorf für die Übersendung einer Kopie dieses Schreibens.
[38] Ebd., S. 84. (Schoeck, H.: Schülermanipulation. S. 62.)
[39] Vgl. Iben, Harry, Reitemeier, Heinrich u.a. (Hrsg.): Schauen und Schaffen. Ein deutsches Lesebuch für das siebte Schuljahr. Frankfurt a.M., Berlin u. Bonn: Moritz Diesterweg 1959. S. 43-45, 117, 209.
[40] Vgl. Eggert, Hartmut, Kleinegees, Helmut u.a. (Hrsg.): texte deutsch. Gy8. Braunschweig: Westermann 1978. S. 88-123.
[41] Vgl. ebd., S. 28-39, 206-241.
[42] Vgl. ebd., S. 170-200.
[43] Vgl. Schoeck, Helmut: Ist Leistung unanständig? Osnabrück: A. Fromm 1971. S. 37-40.
[44] Ebd., S. 60.
[45] Vgl. Schoeck, Helmut: Das Geschäft mit dem Pessimismus. Freiburg im Brsg.: Herder 1975. S. 79-89. Welche Relevanz diesem Umbruch zukommt, verdeutlichen ex negativo die folgenden Zeilen von Bruce Caldwell über Friedrich August von Hayek: „Schooled in a university tradition that permitted bright students to explore areas on their own, he was confident enough to plunge into new fields of study when he thought that they might help him discover solutions to his problems.“ Caldwell, Bruce: Hayek’s Challenge. An Intellectual Biography of F.A. Hayek. Chicago u. London: The University of Chicago Press 2005: 9.
[46] Schoeck, H.: Die 12 Irrtümer unseres Jahrhunderts. S. 51.
[47] Vgl. Heinsohn, Gunnar: Der Sozialstaat pumpt Geld und vermehrt die Armut. http://www.welt.de/debatte/article6305249/Der-Sozialstaat-pumpt-Geld-und-vermehrt-die-Armut.html (9.06.2011).
[48] Vgl. Scheler, M.: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. S. 81-83.
[49] Schoeck, Helmut: Was heißt politisch unmöglich? Erlenbach-Zürich u. Stuttgart: Eugen Rentsch 1959. S. 225.
[50] Vgl. Schoeck, Helmut: Die Lust am schlechten Gewissen. Freiburg im Brsg.: Herder 1973. S. 150-153. Vgl. ferner Schoeck, H.: Die 12 Irrtümer unseres Jahrhunderts. S. 107-137.
[51] Vgl. Maxeiner, Dirk: Hurra, wir retten die Welt! Wie Politik und Medien mit der Klimaforschung umspringen. Berlin: wjs 2010. S. 106.
[52] Schoeck, H.: Was heißt politisch unmöglich? S. 152.
[53] Vgl. ebd., S. 167-172.
[54] Habermann, Gerd: Geschichte der deutschen Sozialpolitik in freiheitlicher Bewertung. In: Vaubel, Roland, und Barbier, Hans D.: Handbuch Marktwirtschaft. Pfullingen: Neske 1986: 78. Was die Jahre von 1933 bis 1945 angeht, folgt der gegenwärtige Aufsatz Götz Alys These von der „Gefälligkeitsdiktatur“. Vgl. Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006. S. 36-38.
[55] Ebd., S. 79.
|

Ideologiekritik an Brecht

Interview anläßlich der Veröffentlichung von „Stadt ohne Vernunft. Über die ideologischen Voraussetzungen des Theaterstücks ‚Der gute Mensch von Sezuan‘ von Bertolt Brecht“, zuerst erschienen in: Die Freie Welt.

FreieWelt.net: Sie haben eine Ideologiekritik aus liberaler Perspektive über das Stück der „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht verfasst. Warum gerade dieser Autor?

Karsten Dahlmanns: Der „Deutsche Bildungsserver“, ein Projekt von Bund und Ländern, bietet auf seiner Seite zum Fach Deutsch an prominenter Stelle Dossiers zu acht Schriftstellern und/oder Dichtern. Goethe fehlt, Brecht ist dabei. (Stand 24.03.2011)

Brecht zählt zu den Autoren, die an unseren Schulen gelesen werden. Damit entfaltet sein Werk eine größere Wirkung, als sie dem Schaffen eines Schriftsteller und/oder Dichters zukommt, der zwar geschätzt wird, aber im Regal bleibt. Im Falle des Ideologen Brecht bedeutet dies: Er kann mehr Übel anrichten.

FreieWelt.net: Und warum gerade dieses Stück?

Karsten Dahlmanns: Das Stück „Der Gute Mensch von Sezuan“ gefällt mir. Wie es geschrieben ist, beeindruckt mich. Deshalb habe ich es ausgewählt.

FreieWelt.net: Welche Kritikpunkte haben Sie an diesem Stück gefunden?

Karsten Dahlmanns: Das Stück arbeitet mit „Leerstellen“; es bezieht seine Suggestivkraft daraus, daß es gangbare Lösungen verschweigt. Das ist natürlich im Interesse des Marxisten Brecht, der seine Zuschauer von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugen möchte.

Aus liberaler Sicht wirkt bemerkenswert, daß man alle diese „Leerstellen“ auffüllen kann: Nicht der böse, böse Kapitalismus schafft das Elend in Sezuan, sondern einzelne Fehlentscheidungen der jeweiligen Figuren. David S. Landes und Theodore Dalrymple würden in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Kultur hinweisen – auf dasjenige, was Mephistopheles im Blick hat, wenn er sagt: „Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein“. So läßt sich schließlich zeigen, daß Sezuan mehr Kapitalismus bräuchte, um zu prosperieren.
Wenn ausgerechnet eine promarxistische Parabel dergleichen hergibt, sollte man auch die Gelegenheit nutzen, es (genüßlich) zu zeigen.

Weit ernster scheint mir, daß dem Stück eine besondere Hinterhältigkeit eignet, gegen die sich besonders Jugendliche nur schlecht zur Wehr setzen können, weil sie von den Stürmen erster Liebe hin- und hergeworfen werden. Brechts Stück handelt nämlich nicht lediglich von der Politik, sondern auch von der Liebe; der letztere Strang dient dem ersteren. Seine Schilderung der Liebe läßt sich kaum ertragen, eine solche Vergeblichkeit vermittelt sie. Die Suggestion des Proselytenmachers lautet: „Schaut her, im Kapitalismus läßt sich nicht lieben. Ihr jungen Liebenden müßt den Kapitalismus überwinden, um in Freiheit und Würde lieben zu können.“
Dieser Kniff ist nicht neu. Schon Marx hat sich seiner bedient, als er im „Kommunistischen Manifest“ die bürgerliche Ehe desavouiert hat. Später wird Erich Fromm mit ähnlichen Argumenten arbeiten. Vor alledem hat ein verantwortlicher Lehrer seine Schüler zu schützen.

FreieWelt.net: Worin liegen die Stärken des Stückes? Ist es aus Ihrer Sicht trotzdem große Literatur oder reine Ideologie?

Karsten Dahlmanns: Die Stärken des Stückes liegen in seiner Sparsamkeit. Brecht versteht es, mit wenigen Strichen ein Bildnis zu schaffen, mit sparsamen Mitteln eine bestimmte Atmosphäre fühlbar zu machen. Trotz aller Distanz, was den Gehalt angeht, kann ich mich dieses Reizes nicht entziehen. Deshalb halte ich es für große Literatur, auch wenn mir kürzlich ein Ordinarius der Germanistik mitgeteilt hat, daß „man“ jenem Stück inzwischen andere Werke Brechts vorziehe.

FreieWelt.net: Kann man bei Brecht den Dichter überhaupt von dem Ideologen trennen? Kann man sagen, es gibt einen guten Brecht, den Künstler und einen schlechten Brecht den kommunistischen Ideologen?

Karsten Dahlmanns: Es scheint mir keineswegs geboten, eine solche Trennung vorzunehmen. Popper folgend, kann Aberglaube – z. B. Astrologie – Forschung beflügeln. In ähnlicher Weise dürfte der Dichter Brecht vom Aberglauben des Ideologen Brecht angespornt worden sein. Das hat zur Größe des Dichters beigetragen, ihn aber auch beschränkt. Soll man das tragisch nennen? Vielleicht wäre ein Brecht ohne Ideologie größer, vielleicht geringer. Das bleibt unwägbar.

FreieWelt.net: Was machte den Marxismus für so viele Autoren so attraktiv?

Karsten Dahlmanns: Es sind wahrscheinlich jene beiden Elemente des Marxismus, die Leszek Kołakowski als „romantisch“ und „prometheisch“ bezeichnet. „Romantisch“ will auf Gemeinschaft hinaus. Das heißt, der Marxismus zieht Menschen an, die mit den „unpersönlichen“, „abstrakten“ und „kalten“ Eigenarten einer liberalen Gesellschaft hadern, weil sie weder deren freiheitsverbürgende Funktion begreifen, noch erkennen, daß man nur in einer solcherart gestalteten Gesellschaft Gemeinschaft finden und, nach Änderung seiner Präferenzen, wieder verlassen kann.
Mit der Bezeichnung „prometheisch“ weist Kołakowski auf Marx Überzeugung hin, daß bei rechter Handhabung des Sozialen alle anderen Probleme verschwinden würden. Damit bildet er eine Art Selbsterlösungslehre – und zugleich, wie Karl Popper und Helmut Schoeck ergänzen würden, die beste aller denkbaren Rechtfertigungen für intellektuelle Unduldsamkeit, Machthunger und Grausamkeit.
Wir müssen damit rechnen, daß intelligente, gebildete und schöpferische Menschen für eine Lehre, die solche Züge vereint, anfällig sind. Nicht im Sinne einer billigen Entlarvung des Zuschnitts „Alle Schriftsteller (Intellektuellen usf.) sind machthungrig“, wohl aber im Sinne einer Versuchung, der sie erliegen oder widerstehen können.

FreieWelt.net: Ist es ein Problem, dass Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle den Diskurs prägen, die eigentlich gar nichts von Wirtschaft verstehen?
Glauben Sie, dass das einen Einfluss auf die Art und Weise hat, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft beurteilen?

Karsten Dahlmanns: Das ist natürlich ein sehr ernstes Problem. Vor einigen Jahrzehnten hat Lord Snow über „die zwei Kulturen“ der Natur- und Geisteswissenschaftler gesprochen; wir können die Ökonomie als dritte Kultur hinzunehmen. Es wäre gut, sehr gut, wenn zwischen diesen drei Kulturen mehr Austausch stattfinden würde. Das Werk Wilhelm Röpkes beweist, wie fruchtbringend die Verbindung nationalökonomischer und geisteswissenschaftlicher Betrachtung sein kann.

Sicher besteht auf der geisteswissenschaftlichen Seite eine Art Schwellenangst vor der Ökonomie. Sie läßt sich – manchmal – überwinden, indem man darauf hinweist, daß Friedrich August von Hayek nicht selten sprachkritische Argumente gebraucht: „Ein Nationalökonom in den Gefilden eines Karl Kraus? Wer hätte das gedacht!“
Eine weitere Bresche läßt sich schlagen, wenn man darauf hinweist, daß der Philosoph Max Scheler und der Nationalökonom Ludwig von Mises gute Bekannte waren, von Mises mit „The Anticapitalistic Mentality“ ein Buch geschrieben hat, das in methodischer Hinsicht Schelers Studie „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ sehr ähnelt.

FreieWelt.net: Ist es eigentlich ein Naturgesetz, dass Dichter und Künstler eher links stehen? Welche Autoren stehen aus Ihrer Sicht eher für das Ideal einer freien Gesellschaft?

Karsten Dahlmanns: Ein Naturgesetz sicher nicht. Ich würde, wie oben angedeutet, von Versuchung sprechen. Daß so viele Schriftsteller, Dichter und andere Künstler ihr erliegen, liegt zum einen an der Droge selbst, zum andern an der Schwäche der Gegenkräfte. Diese Schwäche resultiert nicht zuletzt daraus, daß das verbreitete Rechts-Links-Schema politischer Ideologien und Philosophien irreführend wirkt. Es wäre besser, alle diese Theorie-Vorschläge nach der Frage anzuordnen, welches Maß an Freiheit sie gewähren. Dann würden der „linke“ Kommunismus und der „rechte“ Nationalsozialismus sich zusammen am unteren Ende der Skala befinden.

Unter den Autoren, die für das Ideal einer freien Gesellschaft werben, möchte ich den vor einigen Jahren viel zu früh verstorbenen Dietrich Schwanitz nennen. Seinem Roman „Der Campus“ eignet weit größere Tiefe, als die burleske Oberfläche vermuten läßt; er ist eine fulminante Verteidigung von Rationalität (Wissenschaft); Freiheit, bürgerlichem Leistungswillen und Anstand.

FreieWelt.net: Wenn Sie ein Fazit ziehen sollten. Wenn wir die Ideologie und die historische Bedeutung einmal beiseite lassen, was wird von Brecht bleiben?

Karsten Dahlmanns: Brecht kann schreiben. Einige seiner Gedichte, manche Passagen aus seinen Stücken bestechen durch ihre sparsame und dichte Art. An allem Anderen wird man vorbeilesen.

Rudyard Kipling über die Tradition als Voraussetzung der Freiheit
|

Rudyard Kipling über die Tradition als Voraussetzung der Freiheit

Rudyard Kiplings „The Gods of the Copybook Headings“ („Die Götter der Schönschreibheft-Sinnsprüche“) sind ein erstaunliches Gedicht. Es ist knapp hundert Jahre alt. Wie konnte der Dichter so viele der Torheiten vorhersehen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten begangen haben?

As I pass through my incarnations in every age and race,
I make my proper prostrations to the Gods of the Market Place.
Peering through reverent fingers I watch them flourish and fall,
And the Gods of the Copybook Headings, I notice, outlast them all.

We were living in trees when they met us. They showed us each in turn
That Water would certainly wet us, as Fire would certainly burn:
But we found them lacking in Uplift, Vision and Breadth of Mind,
So we left them to teach the Gorillas while we followed the March of Mankind.

Bestimmte Einsichten und Empfehlungen locken keinen Hund hinter dem Ofen hervor – so selbstverständlich wirken sie. Vielen Menschen, besonders wenn sie jung sind, scheinen diese Maximen deshalb nichtssagend zu sein („Wasser macht naß“ etc.). Es fehlt ihnen das Erhebende und Orignelle („Uplift“, „Vision“ usw.); genau deshalb kann man mit vielen Auffassungen, die vernünftig sind, nicht renommieren. Auch erlauben sie nicht, uns für fortgeschrittener und also klüger als frühere Generationen zu halten („March of Mankind“)… Erkennen wir Köder und Falle?

We moved as the Spirit listed. They never altered their pace,
Being neither cloud nor wind-borne like the Gods of the Market Place;
But they always caught up with our progress, and presently word would come
That a tribe had been wiped off its icefield, or the lights had gone out in Rome.

Dergleichen ist geschehen, und es kann wieder geschehen.

With the Hopes that our World is built on they were utterly out of touch,
They denied that the Moon was Stilton; they denied she was even Dutch;
They denied that Wishes were Horses; they denied that a Pig had Wings;
So we worshipped the Gods of the Market Who promised these beautiful things.

Im Englischen gibt es die wunderbare Fügung „wishful thinking“, um eine bestimmte Form des Kindisch-Seins zu beschreiben, die uns allen immer wieder unterläuft. Das Deutsche ist gerade hier, an dieser für die Ethik und Staatskunst entscheidenden Stelle so viel ärmer! Auf Wünschen kann man nicht reiten, und Hoffnungen sind kein Fels, auf dem man bauen könnte; Hoffnung kann allenfalls dabei helfen, auf der Suche nach festem Grund nicht vorschnell aufzugeben.

When the Cambrian measures were forming, They promised perpetual peace.
They swore, if we gave them our weapons, that the wars of the tribes would cease.
But when we disarmed They sold us and delivered us bound to our foe,
And the Gods of the Copybook Headings said: „Stick to the Devil you know.“

Über die europäische (und deutsche) „Nachkriegsweisheit“ muß kaum ein Wort mehr verloren werden. Wir verlassen uns darauf, daß die Vereinigten Staaten von Amerika uns im Fall der Fälle heraushauen werden. Und verachten sie genau dafür.

On the first Feminian Sandstones we were promised the Fuller Life
(Which started by loving our neighbour and ended by loving his wife)
Till our women had no more children and the men lost reason and faith,
And the Gods of the Copybook Headings said: „The Wages of Sin is Death.“

Der „neue Mensch“ wollte nicht weniger als eine neue Welt gewinnen, und jetzt hat er sogar Schwierigkeiten damit, sich fortzupflanzen. Und er hat seinen Glauben und seine Vernunft verloren. Darüber lohnt nachzudenken. Die „Ehrfurcht vor dem Traditionellen“ ist, so Friedrich August von Hayek, „für das Funktionieren einer freien Gesellschaft unentbehrlich“.

In the Carboniferous Epoch we were promised abundance for all,
By robbing selected Peter to pay for collective Paul;
But, though we had plenty of money, there was nothing our money could buy,
And the Gods of the Copybook Headings said: „If you don’t work you die.“

Der Wohlfahrtsstaat beruht auf Diebstahl („robbing… Peter“), und er ist nur um den Preis chronischer Inflation zu haben. Allein Kiplings Hinweis, daß es nichts gebe, was unser Geld kaufen könne, muß nicht nur auf dessen Entwertung hinweisen. Hier mag auch dasjenige eine Rolle spielen, was Wilhelm Röpke „Langeweile in der Massengesellschaft“ nennt:

Die Menschen werden nicht nur als Produzenten, die typisierte Serienfabrikate in einer mehr und mehr mechanisierten Erzeugung herstellen, sondern auch als Konsumenten ihrer natürlichen Individualität entkleidet, da diese Serienerzeugnisse den individuellen Geschmack ignorieren müssen, während die Klasse derjenigen, die wohlhabend genug sind, die nicht über denselben Leisten geschlagenen Güter zu erwerben, dank einer von der erdrückenden Masse der Normalverbraucher erzwungenen Neidbesteuerung immer mehr zusammenschmilzt.

Kipling fährt fort:

Then the Gods of the Market tumbled, and their smooth-tongued wizards withdrew
And the hearts of the meanest were humbled and began to believe it was true
That All is not Gold that Glitters, and Two and Two make Four —
And the Gods of the Copybook Headings limped up to explain it once more.

Wir beginnen zu glauben, daß an den Weisheiten in den Schönschreibheften etwas dran sein könnte. Das heißt, die sich überlegen dünkenden Menschen aus Kiplings zwanzigstem und unserem einundzwanzigsten Jahrhunder tun das, was Tom Wolfe als Relearning beschrieben hat. Wir lernen, was Generationen vor uns wußten:

In 1968, in San Francisco, I came across a curious footnote to the hippie movement. At the Haight-Ashbury Free Clinic, there were doctors treating diseases no living doctor had ever encountered before, diseases that had disappeared so long ago they had never even picked up Latin names, diseases such as the mange, the grunge, the itch, the twitch, the thrush, the scroff, the rot. And how was it that they now returned? It had to do with the fact that thousands of young men and women had migrated to San Francisco to live communally in what I think history will record as one of the most extraordinary religious fevers of all time.

The hippies sought nothing less than to sweep aside all codes and restraints of the past and start from zero. At one point, the novelist Ken Kesey, leader of a commune called the Merry Pranksters, organized a pilgrimage to Stonehenge with the idea of returning to Anglo-Saxon’s point zero, which he figured was Stonehenge, and heading out all over again to do it better. Among the codes and restraints that people in the communes swept aside–quite purposely–were those that said you shouldn’t use other people’s toothbrushes or sleep on other people’s mattresses without changing the sheets, or as was more likely, without using any sheets at all, or that you and five other people shouldn’t drink from the same bottle of Shasta or take tokes from the same cigarette. And now, in 1968, they were relearning…the laws of hygiene…by getting the mange, the grunge, the itch, the twitch, the thrush, the scroff, the rot.

Aber zurück zu Kipling:

As it will be in the future, it was at the birth of Man —
There are only four things certain since Social Progress began: —
That the Dog returns to his Vomit and the Sow returns to her Mire,
And the burnt Fool’s bandaged finger goes wabbling back to the Fire;

And that after this is accomplished, and the brave new world begins
When all men are paid for existing and no man must pay for his sins,
As surely as Water will wet us, as surely as Fire will burn,
The Gods of the Copybook Headings with terror and slaughter return!

Wer atmet, dem steht auch dann, wenn er gesund ist, lebenslang Geld zu. Ob „Hartz IV“, „Bürgergeld“ oder „garantiertes Grundeinkommen“. Für das Brot und die Spiele. Keines weiteren Worts bedarf es, um in dieser Vorstellung den Gipfel der Dekadenz zu erkennen. Und zwar selbst dann, wenn nicht wieder Peter (und sein Nachwuchs bis in die x-te Generation) für den „kollektiven Paul“ zahlen müßte. Wobei überhaupt Peter, der ausgewählte („selected“) Peter, dort, wo die Schönschreibheft-Sinnsprüche auf taube Ohren stoßen, ganz offenbar der Einzige ist, der bestraft wird. Natürlich trifft es ihn nicht etwa deshalb, weil er eine Sünde oder sonstige Übertretung begangen hätte; schließlich wird wegen solcher Dinge niemand mehr ernsthaft bestraft, sondern „nur“ noch zu bessern versucht. Kipling durchdringt auch den Widersinn der pantherapeutischen Weltsicht, wie sie Theodore Dalrymple u.a. beschreiben, und erkennt sie als Symptom der Dekadenz, die er beschreibt. Peter wird ausgenommen, weil er (noch) geben kann.

Wie lange das so weitergehen kann und soll? Bis die Götter der Schönschreibheft-Sinnsprüche wiederkehren – mit Feuer und Schwert. Soviel zum Thema „vermeidbares Elend“.

***

Das Gedicht von Rudyard Kipling findet sich u.a. bei John Derbyshire, der es als Text und Hördatei bereithält. Auf Tom Wolfes Relearning-Topos bin ich durch Ed Driscoll aufmerksam geworden. Friedrich August von Hayeks Mahnung ist im vierten Kapitel, (sechster Abschnitt) von dessen „Die Verfassung der Freiheit“ enthalten. Wilhelm Röpke schreibt von der Langeweile in der Massengesellschaft im zweiten Kapitel seines Werkes „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Inhaltsübersicht); das Zitat stammt von Seite 110 einer älteren Ausgabe (Erlenbach-Zürich u. Stuttgart 1966). Natürlich bildet Kiplings Strophe von der Rückkehr der Sinnspruch-Götter keine Endzeitphantasie, sondern „nur“ einen Hinweis auf die Folgen menschlicher Dummheit. (Hintergrund-Bild: Pixabay.)

„Hallo!“ Über verbalen Egalitarismus

„Hallo!“ Über verbalen Egalitarismus

Es ist mir nicht erinnerlich, wann die Deutschen begonnen haben, sich der Wendung “Guten Tag” zu entledigen.

In Niedersachsen jedenfalls wirkt man inzwischen über die Maßen förmlich, wenn man wagt, etwas anderes als “Hallo!” zu sagen. “Hallo!” hört man von der ältlichen Bäckersfrau, “Hallo-ho!” flötet die gutgelaunte Fleischerei-Fachverkäuferin, ein sachlich-zuversichtliches “Hallo!” weiß der Oberarzt anzubringen. Als seien wir alle eine große Familie  – von Störenfrieden wie Thilo Sarrazin abgesehen.

Vor sechsundachzig Jahren stellte der Philosoph Helmut Plessner fest: “Das Idol dieses Zeitalters ist die Gemeinschaft.” (Die Grenzen der Gemeinschaft, Bonn 1924, S. 26) Daran hat sich nichts geändert. Eher im Gegenteil; mit jener Unbedingtheit, die den Gegenstand der Plessnerschen Studie bildet, wühlen wir uns immer tiefer in die Gleichheit hinein. Wenigstens, was das Äußerliche angeht.

Denn daß aus dergleichen Träumen nichts werden kann, die Gesellschaft ebendasjenige ist, was sie ist: Gesellschaft nämlich, und nicht Gemeinschaft, wollen viele unter uns nicht einsehen. Dabei bräuchten sie nur zu verstehen, daß die “kalte” Gesellschaft Raum für viele kleine und größere Gemeinschaften bietet, – wie deutlich, doch in schrecklich verklausulierter Sprache Rainer Forst in seinem Buch Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1994, zeigt -, sich zurückzulehnen und die nachstehende Anekdote zu genießen, die der tapfere Helmut Schoeck mitteilt:

Die den Europäer, je nach dem Grad seiner egalitären Sehnsüchte, so erstaunende oder beglückende Vertraulichkeit der Anrede im amerikanischen Alltag hat […] ihre Grenzen. Aber an solche denkt die Jugend ja ungern. Ehe sie jedoch von den Äußerlichkeiten einer vermeintlich enthierarchisierten Gesellschaft sich die Heilung aller zwischenmenschlichen Probleme verspricht, sei erwähnt, daß auch der vor seinem Richter stehende Kandidat für den elektrischen Stuhl zu hören bekam: “I am sorry, Al, but I have to send you to the chair.”

(Helmut Schoeck, Die Lust am schlechten Gewissen, Freiburg i. Brsg. 1973, S. 77.)

Russell über Marx und Calvin
|

Russell über Marx und Calvin

Unsere Linksradikalen jugendlichen oder berufsjugendlichen Zuschnitts halten sich für „rationaler“ – es lebe der Komparativ! – als ihre nicht-linken Zeitgenossen. Diese Selbsteinschätzung könnte sich jedoch als hinfällig erweisen, wie Bertrand Russell in „New Hopes for a Changing World“ zeigt:

There is in Marx a cold logic which is reminiscent of Calvin. Calvin held that certain people – chosen not for their virtues but arbitrarily – are predestined to go to heaven, and the rest are predestined to go to hell. No one has a free will: if the elect behave well that is by God’s grace, and if the reprobate behave badly, that again is because God has so willed it. So in Marx’s system if you are born a proletarian you are fated to carry out the purposes of Dialectical Materialism (as the new God is called), while if you are born a bourgeois you are predestined to struggle vainly against the light, and to be cast into outer darkness if you live until the coming Revolution.

The whole process of history proceeds according to a logical system, which Marx took over, with slight modifications, from Hegel. Human developments are as irresistible and as independent of human will as the movements of the heavenly bodies. The force that brings about change in social affairs is the conflict of classes. After the proletarian revolution there will be only one class, and therefore change will cease. For a time the dispossessed bourgeoisie will suffer, and the elect, like Tertullian, will diversify their bliss by the contemplation of the damned in concentration camps. But Marx, more merciful than Calvin, will allow their sufferings to end with death.

This curiously primitive myth…

Was könnte man noch hinzufügen?

(Das Zitat findet sich auf den Seiten 121-122 der Ausgabe, welche 1956 bei George Allen & Unwin in London erschienen ist.)

Helmut Schoeck: Sinnvernichtung

Helmut Schoeck: Sinnvernichtung

Evolution hat keinen guten Ruf. Sie wird oft als etwas aufgefaßt, das allem Menschlichen fremd, gar entgegengesetzt sei; als ein entmenschtes Gegen-Evangelium. Dieser Eindruck läßt sich mildern, indem man sich um ein umfassenderes Bild der Sachlage bemüht. Und erkennt, daß der Mensch nicht nur „Glied“[1], sondern auch „Steuernder“[2] der Evolution ist – durch seine Kreativität. Wir sollten uns deshalb verdeutlichen, „daß wir es sind, die in all den Bereichen von der Religionssoziologie bis zur Technikentwicklung das jeweils Neue hervorbringen“.[3] Und zwar auf vielfältige Weise; „in der Möglichkeit zur Zuchtwahl wie zur Genmanipulation, im Entwerfen und Verwirklichen sozialer Systeme, im Konzipieren wissenschaftlicher Theorien und im Realisieren technologischer Artefakte zur Befriedigung […] menschlicher Bedürfnisse.“[4]

Wie sehr der Mensch die Evolution beeinflußt, macht ein näherer Blick auf deren „Mechanismen“ deutlich; – auf jene Mechanismen, die Evolution ermöglichen und vorantreiben. Charles S. Peirce unterscheidet drei solche Mechanismen:

(i)    Die Evolution per Zufallsvariation („tychastische Evolution“[5]), auf der der Darwinismus gründet.[6] Sie wird durch Zufälle wie denjenigen ermöglicht, daß gerade jener Paul gerade jene Paula in gerade jener Stadt traf, sich verliebte und schließlich ein Töchterchen namens Paulette zeugte. Paulette verdankt die Zusammensetzung ihrer Gene dem Zufall.

(ii)    Die „Evolution durch mechanische Notwendigkeit“[7] („anankastische Evolution“[8]). Mechanische Notwendigkeit wirkt, „[w]enn ein Ei dazu bestimmt ist, eine gewisse Reihe von embryonalen Transformationen durchzumachen, von der es ganz gewiß nicht abweicht“.[9] Jedenfalls, sofern nichts Äußeres dazwischen kommt. (Was hinwiederum einen Effekt tychastischer Evolution bilden würde – „das Sichkreuzen zweier unabhängiger Kausalreihen“.[11])

(iii)    Die „Evolution durch schöpferische Liebe“[12] („evolution by creative love“[13]; „agapastische Evolution“[14]). Dieser Mechanismus wird gern übersehen. Das ist bedauerlich. Denn ohne ihn erweist es sich als schlichtweg unmöglich, das Entstehen all der Ideen für Handwerkszeuge und technische Geräte, der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Theorien, der Kunstwerke und der Meisterwerke der Architektur zu erklären. Schließlich gedeihen all diese Pläne und Dinge nur dann, wenn ein Mensch Arbeit und Mühe – „Gehirnschmalz“ – investiert, lange darüber nachdenkt, was er verbessern, was er noch besser gestalten könnte; mit einem Worte, ihnen Zuwendung schenkt. Man sorgt (wie bei Pflanzen[15]) durch Zuwendung dafür, daß seine Pläne gedeihen; durch schöpferische Liebe. Sonst gedeihen sie nicht.

Wir erkennen: Ein umfassendes Bild der Mechanismen, die Evolution ermöglichen, verändert unseren Eindruck vom Ort des Menschen in der Evolution, und dies in entscheidender Weise! Zwar bleiben wir Geschöpfe der Evolution, deren Launen – man denke an die Sonne – ausgeliefert. Doch sind wir auch – zu Teilen – deren Gestalter; wir beeinflussen die Evolution. Durch unsere Kreativität. Durch unsere Kulturleistungen. So weicht der Eindruck bloßen Ausgeliefert-Seins dem einer gewaltigen Abenteuer-Fahrt.[17]

Deshalb liegt es in unserem Interesse, ein umfassendes Bild der Mechanismen zu erwerben, die Evolution ermöglichen. Bevor wir – grundlos – verzagen. Und darob dem wissenschaftlichen Denken untreu werden.

Übersehene Liebe, wucherndes Unglück

Natürlich sind die drei von Peirce unterschiedenen Evolutionsmechanismen irreduzibel; wir müssen uns aller drei bedienen, wenn wir beschreiben wollen, wie wir zu denen geworden, die wir sind. Ohne Mechanismus (iii) etwa – die Evolution durch schöpferische Liebe – bliebe jedweder (im weitesten Sinne) kulturelle Fortschritt unerklärlich; denn ohne unseren Einfallsreichtum – der übrigens stets der Einfallsreichtum Einzelner ist – würden wir alle immer noch in Höhlen hausen. Trotzdem wird Mechanismus (iii) oft übersehen oder sogar mutwillig hinwegerklärt, das heißt auf einen der anderen Mechanismen zu reduzieren versucht, die Evolution ermöglichen. Im Widerspruch zu dem, was die Maßgabe der Umfassendheit fordert.

Jede Torheit hat ihren Preis; auch ein solcher Reduktionismus in der Evolutionsphilosophie. Wer Mechanismus (iii) übersieht oder forterklärt, muß sich nicht wundern, wenn er den Eindruck einer unfreundlichen, ja unmenschlichen Welt schafft. Einer Welt, in der Zufall – Mechanismus (i) –  und Naturnotwendigkeit – Mechanismus (ii) – herrschen, doch der einzelne Mensch nichts ausrichten kann. Man wird es nicht für übertrieben halten, wenn ich diesen Eindruck als künstlich niederdrückend beschreibe; als geeignet, Resignation und Depression auch dort hervorzurufen, wo wenig Anlaß besteht. Es liegt daher in unserem Interesse, uns auf keinerlei Reduktionismus einzulassen! Und – als Akt der Nächstenliebe – den Reduktionismus in der Evolutionsphilosophie zu bekämpfen.

Eine Welt, in der der Einzelne nichts ausrichten kann, beschreiben viele deutsche Schulbücher aus den 1970er Jahren – in „kritischer“ Absicht. Sie erweisen sich damit als in genau der Weise künstlich niederdrückend, die soeben beschrieben wurde. Schoeck macht deren ganze Perfidie deutlich:

Anschauungsbeispiele für etwas Schönes, Gelungenes, für das Kunstwerk, das in seiner Abgrenzbarkeit von der Umgebung, in seiner geglückten Ganzheit ein Erlebnis, wenigstens eine Ahnung von Sinn vermitteln könnte, werden aus der Schule verbannt. Erzählungen und Abbildungen geglückter Unternehmungen (das Betreten des Mondes ebenso wie Lindberghs Alleinflug über den Atlantik, ein Gedicht oder Gemälde) werden in vielen Fällen nur noch ins Schulbuch aufgenommen, wenn sie mit Bildern oder Texten eingerahmt sind, aus denen menschliches Versagen zu sprechen scheint. Das linke Lernziel heißt: schon das elfjährige Kind soll spüren, dein Leben in dieser Gesellschaft, in dieser Zeit ist sinnlos, ist überflüssig. Wie ein riesiger Staubsauger, der […] mit Dutzenden von Schläuchen aus der Seele des Kindes jeden Winkel absaugt, in dem noch ein Rest von Sinn verborgen sein könnte, sind die linken Lernziele […] ein wohlüberlegtes Instrument zur Abtötung jedes Erlebnisses von Sinn.

Welche enorme Gefahr für die seelische Gesundheit dies mit sich bringt, kann man z.B. den Ausführungen des Psychotherapeuten Professor Viktor E. Frankl, „Der Mensch auf der Suche nach Sinn“ […], entnehmen. Er sieht seit mehreren Jahren auf die Jugend eine ganz neue Art von Neurose zukommen. Diese hat mit den herkömmlichen Konflikten und Komplexen […] wenig zu tun. Es handelt sich nach seinen Beobachtungen bei jungen Menschen in zahlreichen westlichen Ländern um Gewissenskonflikte und eine „existentielle Frustration […], um ein Gefühl der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz; das eigene Dasein habe keinen Sinn. Es läßt sich vorstellen, wie diese für unsere Zeit ohnehin typische Ursache seelischer Erkrankung in der Schule als „Lernziel“ bei Kindern wirkt.[19]

Natürlich scheint dem eigenen Dasein der Sinn zu mangeln, wenn man eingetrichtert bekommt, daß der Einzelne weder etwas gestalten, noch ausrichten könne! Wer jungen Menschen Mechanismus (iii) – die Evolution durch schöpferische Liebe, Einsatz und Gehirnschmalz des Einzelnen – vorenthält oder durch Gewissenskonflikte verstellt, für die es keinen sachlichen Anlaß gibt, handelt verantwortungslos. Ob als Schulbuchredakteur, Lehrer oder Dozent.

Anmerkungen