Prolet, aber schnieke
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Prolet, aber schnieke

Wolf Jobst Siedler berichtet in seiner lesenswerten Aufsatz- und Briefsammlung Wider den Strich gedacht über den am Boulevard Unter den Linden angesiedelten Berliner

Herrenschneider Ludwig, der in seinem ausgebombten Haus noch nach dem Kriege sein Geschäft betrieb. Ein Kunde prägte sich ihm besonders ein, weil der stets Arbeiteranzüge und Schiebermützen bestellte, aber aus feinstem englischen Stoff. Sein Name war Bertolt Brecht.

Das war in jeder Hinsicht zu erwarten…

(Quelle: Wolf Jobst Siedler, „Bürgerliche Straßen in unbürgerlicher Welt“, in: ders., Wider den Strich gedacht, München 2006, S. 49-68, hier S. 61. Beitragsbild: Berlin, Unter den Linden (1890-1900), also einige Jahrzehnte zu früh, an Brecht gemessen; Library of Congress: No known restrictions on publication.)

Aus recyceltem Polyester
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Aus recyceltem Polyester

Bei einem international tätigen Bekleidungsdiscounter sehe ich den Hinweis, dieses oder jenes Kleidungsstück sei zu sehr hohem Anteil aus recyceltem Polyester gefertigt worden. Der Hinweis findet sich an vielen der feilgebotenen, nun, Klamotten. Natürlich geht es dabei nicht um die Kleidung, sondern um – Sie ahnen es – den Planeten.

Die Tugend-Wedelei verdrießt mich. Also behaupte ich:

Hier findet zusammen, was zusammen gehört. Recycelte Kunstfaser für die unerleuchtete Masse, für alle diejenigen, welche als Insektenfresser vorgesehen sind. „Eßt Eure Käfer, Plebejer!“ Sonst wird unser Wandelstern den Hitzetod sterben.

Wo bleibt das Positive? Hier. Und vielleicht erinnern Sie sich an diesen oder jenen Ihrer Professoren in einem schon damals, als Sie studierten, mehrere Jahrzehnte alten Anzug. Sein Material (sowohl das der Vorlesung als auch jenes des Anzugs) war unverwüstlich, Anzug und Besitzer schon deshalb cool, weil sie über den Moden standen. Das ist Nachhaltigkeit!

(Bild: Unsplash.com.)

Wenn man all die jungen Westler in ihren Vollbärten sieht…

Wenn man all die jungen Westler in ihren Vollbärten sieht…

…gewinnt man den Eindruck, sie kämpfen mit ihren Kinnwäldern um jedes Gran Respektabilität, das ihnen im Dauerfeuer unserer progressiven Freund/*/inn/e/n gegen weiße heterosexuelle, womöglich auch nicht ganz blöde, dazu arbeitsame, freundliche und verläßliche Männer geblieben ist, und im ‚bloß‘ Äußerlichen gegen diesen mehr als sinistren Slim-Stil in der Herrenbekleidung an, der sämtliche Kleidungsstücke – ob Sakko, ob Hemd, ob Pullover – wirken läßt, als seien sie eingelaufen oder aus dem Fundus des jüngeren Bruders entwendet worden.

(Bild: John Singer Sargent: An Out-of-Doors Study, gemeinfrei.)

Alles falsch

Alles falsch

Die Zeiten sind schlecht: die freiheitsverbürgenden Institutionen der Bundesrepublik Deutschland werden umgangen oder geben sich selbst auf, bestürzend viele Maschinen der Luftwaffe sind flugunfähig, und der Besuch von Läden, in denen Herrenbekleidung angeboten wird, macht auch immer weniger Freude. Was hat man dem bürgerlichen, westlichen Kleidungsstück schlechthin, dem Anzug und seinen Ablegern, dem Sportsakko etc. angetan?! Werfen Sie einen Blick auf unser (durchaus ansehnliches) Modell: Die Jacke wirkt im ganzen zu kurz, wie eingelaufen. Die Rockschöße müßten wenigstens vier Zentimeter länger sein, um als Rockschöße durchgehen zu können; wie sie sind, taugen sie allenfalls als Joppenschößchen. Über die Position der Knöpfe wäre ein ganzer Traktat zu schreiben; das nach oben gerutschte Revers verdiente ebenfalls ein paar Worte.  Und dann die Schulterpartie, du meine Güte: Die schwindsüchtigen Schulterpölsterchen tragen zum Eindruck des Eingelaufen-Seins bei; im Zusammenspiel mit den zu kurzen Rockschößen mindern sie den sowohl streckenden als auch, auf Höhe der Schultern, verstärkenden Eindruck, den klassische Herrenbekleidung hervorzurufen pflegt. Die gesamte Silhouette wirkt im besten Fall adoleszent, in freier Wildbahn aber, wo das Sakko kaum noch das obere Drittel der Gesäßtaschen von (unserem Modell in der Regel an Anmut unterlegenen) Jeans- und Chinosträgern bedeckt, enervierend unbeholfen: Man hat den Eindruck, eine Parodie vor sich zu sehen…

Insofern freilich paßt der Trend gar nicht schlecht: Nachbürgerliche Kleidung für eine Gesellschaft, die alles sein will, nur nicht bürgerlich.

 (Sie finden das ungerecht? Immerhin habe ich für das Beitragsbild ein noch recht manierliches Beispiel ausgewählt. Klicken Sie, schauen Sie ein wenig herum: Schlimmer geht’s immer.)