Zur Sprache der Berliner Republik. Michael Esders‘ „Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme“

Zur Sprache der Berliner Republik. Michael Esders‘ „Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme“

ORBIS LINGUARUM 54 (2021) – PDF

Michael Esders analysiert Deformation und Dienstbarmachung der Sprache in der Bundesrepublik Deutschland der vergangenen zwei Jahrzehnte. Seine Studie möchte zeigen, daß eine Reihe sprachlicher Kniffe in der Politik, den Medien und an den Universitäten dazu beiträgt, dem Souverän eine selbstzerstörerische Migrations- und wohlstandsvernichtende Umweltpolitik akzeptabel zu machen, allgemeiner gesprochen: die demokratische Willensbildung soweit zu manipulieren, daß deren Klassifikation als ‚postdemokratisch‘ kaum überzogen wirkt. Der mit einer Arbeit über literarische Formen der Philosophie promovierte Autor nennt diesen Prozeß und dessen Ergebnis „Sprachregime“.

Esders beruft sich gleich zu Beginn auf Victor Klemperers berühmtes Buch über die Sprache des Dritten Reiches:

Der gegenbildlichen Identität und Staatsräson der Bundesrepublik entsprechend, hat sich eine LTI mit umgekehrten Vorzeichen ausgebreitet. Die Sprache wurde zu dem, was ihre emanzipatorischen Leitbegriffe am entschiedensten negieren. Sie konnte es werden, weil sie […] das ‚Nie wieder‘ so ausstellt, dass niemand die Offensichtlichkeit des ‚Wieder‘ wahrnehmen muss. (S. 8)

Dieses „Wieder“ ist ein von vielen Bundesbürgern wahrgenommener Mangel an Gedankenfreiheit bei ideologischer Gängelung, eine heute nicht mehr feldgraue oder braune, sondern „bunttümelnde Eintönigkeit“ (ebd.), wobei „bunt“ natürlich die Voraussetzungen und Auswirkungen einer multikulturellen und auf dem Felde der Sexualmoral nicht mehr von überkommenen Vorstellungen geprägten Gesellschaft meint. 

Nun dürften sowohl Esders‘ politische Voraussetzungen, als auch die Selbstverständlichkeit, mit der er seine Abhandlung in die Tradition Klemperers stellt, Teile des gebildeten Publikums abschrecken. Die Lektüre sei dennoch empfohlen. Esders‘ dreiteilige Studie – sie enthält die Abschnitte „Wahrheitssysteme“, „Narrative der Hypermoral“, „Matrix der Differenz“ – zeichnet sich durch gepflegte, nicht selten elegant zugespitzte und zumeist solide fundierte Argumente aus. Von Dumpfheit, Ressentiment oder der Freude an Verschwörungstheorien ist in der Theodor W. Adorno, Emmanuel Lévinas, Hermann Lübbe u.a. streifenden Studie wenig zu spüren. Die eingangs getroffene Feststellung über Kniffe sprachlicher Art impliziert ja keinesfalls, daß diese Kniffe durch eine Instanz zentral geplant oder gesteuert seien; spontane Koalitionen, zweckbestimmte, auch konkurrierende und widerstreitende Allianzen sollten stets in Betracht gezogen werden.

„Wahrheitssysteme“ ist ein ungewohnter Begriff. Er stammt vom sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, der 2018 im „Zusammenhang mit den behaupteten ‚Hetzjagden‘ in Chemnitz […] von einem ‚Angriff auf unsere Wahrheitssysteme‘“ gesprochen hatte (S. 10, vgl. auch S. 24). Esders kommentiert:

Wahrheiten sind organisierbar, gibt diese Äußerung zu verstehen. […] Nur wer die Wirkungsweise solcher ‚Wahrheitssysteme‘ versteht und ihr semantisches Betriebssystem entschlüsselt, kann die Macht des Sprachregimes brechen (S. 10),

mithin, wie Esders annehmen dürfte, von postdemokratischer zu demokratischer Willensbildung zurückkehren.

Esders ist zuzustimmen, wo er eine Analyse auf der Wortebene für unzureichend hält. Die seinerseits in den Blick genommenen sprachlichen Kniffe sind oftmals logischer und epistemologischer Natur; dabei ist die solide wissenschaftstheoretische Ausbildung des Verfassers zu spüren. Die Diskussion, ob Migrantengewalt als „Einzelfälle“ und somit in politischer und staatsphilosophischer Hinsicht als irrelevant zu gelten habe, wird mit den Mitteln der Konventionalismus-Diskussion in der Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus von Karl Popper begriffen. Auch die zitierte Äußerung des sächsischen Ministerpräsidenten wird im Lichte des Konventionalismus kommentiert:

Nicht die Tötung des Daniel H. [in Chemnitz] wird als „Angriff“ gewertet, sondern die Reaktion auf diese Tat. Im System wird Wahrheit zur autopoietischen Kategorie, zur Frage optimierbarer Selbstorganisation. Was im Widerspruch zu den eigenen Sätzen und Setzungen steht, wird […] als aggressiver Akt interpretiert und kriminalisiert. […] Die Falsifikation der eigenen Thesen käme schon deshalb einer Vernichtung gleich, weil jede Behauptung Selbstbehauptung ist. (S. 25; vgl. auch S. 70)

Jeder mit der Philosophie Poppers auch nur oberflächlich Vertraute ermißt, wie vernichtend dieses Urteil über die Vernunftwilligkeit der Beteiligten ist.

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