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Dwinger lesen

Studia Neofilologiczne, 14 (2018), S. 9-31 (zitierfähiges PDF)

Der gegenwärtige Aufsatz beschäftigt sich mit ausgewählten Zügen des Schaffens von Edwin Erich Dwinger (1898-1981), einem heute weitgehend vergessenen, da politisch desavouierten Erfolgsautor der zwanziger bis vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, der bis hinein in die Bundesrepublik Deutschland publizierte. Dabei werden vor allem Fragen des Gehalts ins Auge gefaßt, formale Aspekte eher am Rande behandelt. Die Darstellung besitzt Längsschnitt-Charakter; sie springt zwischen verschiedenen Werken Dwingers, die zwischen 1929 und 1936 erschienen sind, hin und her, um diesen oder jenen Standpunkt ideologischer Art herauszuarbeiten. Ihr unterliegt die erkenntnisleitende Annahme, daß eine weltanschauliche Nähe zwischen den positiv gezeichneten Figuren Dwingers und ihrem Schöpfer bestehe.[1] Der anklagende, ‚kämpferische‘ Charakter der im Folgenden diskutierten Bücher rechtfertigt eine solche Hypothese, die unter anderen Umständen mehr als problematisch wäre.

Die Beschäftigung mit Dwingers Werk lohnt, weil sie interessante Perspektiven auf die Literatur über den Ersten Weltkrieg – wie unten in einem Vergleich mit Remarques Im Westen nichts Neues durchgeführt – und gewinnbringende Einblicke mentalitätsgeschichtlicher Art erlaubt. Letzteres gilt besonders dort, wo die unterschiedlichen Spielformen des deutschen Antiliberalismus (Kollektivismus, in stärkster Ausprägung Totalitarismus; auch der Symptome Antiamerikanismus und Anglophobie) erforscht werden.[2] Eine Reinwaschung Dwingers wird nicht beabsichtigt.

Seiner Anlage nach betrachtet der vorliegende Aufsatz zunächst Dwingers Rezeption in Deutschland und Polen, um zu einem Vergleich von Remarques Im Westen nichts Neues mit Dwingers frühen Schriften voranzuschreiten. Der darauffolgende Abschnitt arbeitet heraus, weshalb das Bild der Bolschewiki in den besprochenen Bänden der Sibirischen Trilogie nicht völlig negativ ist. Der vierte und letzte Abschnitt untersucht Dwingers Zerrbild vom Bürgertum; dies dürfte einiges Licht auf dessen Entschluß werfen, dem braunen Totalitarismus zu dienen. Eine kurze Schlußbetrachtung wägt das Erarbeitete.

Zur Rezeption

Dwingers bekannteste Werke sind die ihrer Gestaltung nach zwischen Autobiographie und fiktionalem Erzähltext angesiedelten Bände Die Armee hinter Stacheldraht. Das sibirische Tagebuch, erschienen 1929, und Zwischen Weiß und Rot. Die russische Tragödie, publiziert 1930. Die Glaubwürdigkeit des Geschilderten muß als umstritten gelten. Während viele Kommentatoren Dwingers Berichte für einigermaßen authentisch halten, sie daher z.B. als „Romanreportagen“[3] bezeichnen, führt Georg Wurzer verschiedene Argumente an, die zeigen sollen, daß die beiden Bücher weit weniger Erlebnisse ihres Verfassers spiegeln, als weithin angenommen. So sei Dwinger keineswegs der Sohn einer russischen Mutter, seien seine Russischkenntnisse, wie von Zeitzeugen belegt, viel schwächer gewesen, als in den Büchern vermerkt. Er habe seine Kriegsgefangenschaft nicht in dem Lager verbracht, welches in seinen Büchern beschrieben wird. Während des Russischen Bürgerkrieges habe sich Dwinger in Deutschland befunden und als Invalide Sozialleistungen der Weimarer Republik bezogen.[4]

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