Wilhelm Röpke: Liberalismus als Popanz

Wilhelm Röpke beschreibt, wie der Liberalismus und dessen Anhänger lächerlich gemacht werden, um die beste Hoffnung, die wir haben, zu zerstören. Seine Ausführungen beziehen sich auf die letzten Jahre vor dem zweiten Weltkrieg, sind aber auch heute noch aktuell, wenn man sie auf neuere Angriffe gegen Liberalismus und Neoliberalismus bezieht; im Zweifel wäre nur das Wort „Juden“ gegen die Wörter „Israelis“ und/oder „US-Amerikaner“  auszutauschen, das Wort „Landesverräter“ gegen die Wörter „Nationalist“ und/oder „Rassist“ – sowie, den Achtundsechzigern geschuldet, das Wort „liederlich“ gegen sein Gegenteil „zwanghaft“:

…nichts Geringeres geht vor sich, als daß ein Massenaufstand gegen die letzten Grundlagen alles dessen ausgebrochen ist, was wir Kultur nennen: ein Massenaufstand gegen Vernunft, Freiheit, Humanität und gegen jene geschriebenen und ungeschriebenen Normen, die in Jahrtausenden entstanden sind, um eine hochdifferenzierte menschliche Gemeinschaft zu ermöglichen, ohne die Menschen zu Staatssklaven zu erniedrigen. Wir hatten es verlernt und erfahren es jetzt wieder, daß Kultur besitzen nichts anderes heißt, als daß die Gesellschaft immer wieder aufs neue die Kraft und den Willen aufbringt, sich zwischen den beiden Polen der Barbarei zu bewegen: dem der Anarchie und dem des Kasernenhofes. Um dieses Kunststück fertigzubringen, müssen die Menschen von bestimmten Idealen des Gemeinschaftslebens erfüllt sein, müssen sie gelernt haben, ihre Triebe durch Vernunft zu zähmen, müssen sie von der unerschütterlichen Überzeugung durchdrungen sein, daß jeder Mensch gleichen Anspruch auf die Achtung seines Menschentums hat, müssen sie ein Gefühl haben für den unendlichen Wert der Persönlichkeit und für die Unantastbarkeit ihrer geistigen Ausprägung. …

Das alles sind Ideale, die heute landauf, landab als „liberal“ allgemeiner Verachtung und Verwünschung preisgegeben werden. Es ist nun erheiternd zu sehen, welches Zerrbild die Unwissenheit, und empörend zu sehen, welches Zerrbild die Böswilligkeit von jenen Idealen des Gemeinschaftslebens entworfen hat, die wir als liberale bezeichnen. Es scheint, als brauche jede politische Massenbewegung gewisse massive Gegner, gegen die man die Massen zum Haß entflammt, Schießbudenfiguren, auf die man nach Herzenslust schießen läßt. „Freimaurer“ in Italien, „Juden“ in Deutschland, „Marxisten“, „Erbfeinde“ aller Art und vor allem die „Liberalen“ sind bevorzugte Figuren. Die Schießbudenfigur des Liberalen, die sich die deutschen Illiberalen angefertigt haben, braucht hier kaum noch besonders beschrieben zu werden: ein trockener Pedant, bis zum Knöchel im Großstadtasphalt versunken, ohne einen Glauben irgendwelcher Art und ein höheres Ideal als das des Geldverdienens, von liederlicher Gesinnung und Lebensführung, berufsmäßiger Landesverräter, gesinnungslos, keiner Begeisterung fähig, eine Mumie des 19. Jahrhunderts. Der Liberalismus wird dann überhaupt dem 19. Jahrhundert gleichgesetzt, dem alle nur irgend ausdenkbaren Greuel zugeschrieben werden. Daß Goethe mit seiner Haupttätigkeit in dieses Jahrhundert fällt, scheint nicht zu stören.

Wilhelm Röpke, Wirrnis und Wahrheit, Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1962, S. 107-109.

|

Glaube, Vertrauen und Wohlstandserwerb

David P. Goldman (Spengler) mit faszinierenden Bemerkungen über den Glauben und das Vertrauen als Bedingungen für den modernen Kapitalismus. Adam Smith‘ unsichtbare Hand ist nicht genug, so Goldman, denn „Kredit“ kommt von „credere“:

Nowhere in the pagan world […] do we meet a God who offers his laws (the Torah) to a people, as YHWH did at Mount Sinai, and ask that people’s free assent to accept these laws. […] That is the origin of faith, emunah in Hebrew, meaning loyalty as well as belief.

Gläubig zu sein, heißt: sein Wort halten. Und zwar auch jenseits der Bande von Familie und Freundschaft, Dorf und Volk:

That is the Jewish genius: to be able to inspire faith (or what is usually called “confidence” in markets) to make possible long-term investments in capital markets involving millions of participants. The investors in a bond or stock issue are not linked by ties of family or personal loyalty, but rather by contract, law and custom. Their obligations extend beyond the ancient loyalties of family and clan. That may seem obvious on first reflection. But most countries in the world lack functioning capital markets, because faith is absent. […] In backward countries, trust is inconceivable outside the narrow circle of blood relations. Firms remain small because trust is restricted to family members.

Kapitalismus (wenn denn dieses Wort gebraucht werden muß) funktioniert also am besten dort, wo Glaube Vertrauen stiftet, nicht aber dort, wo  – wie manches Klischee will –  mit dem Glauben das Vertrauen schwindet.

Mehr lesen „Glaube, Vertrauen und Wohlstandserwerb“
|

Stefan George und Wilhelm Röpke über – und gegen – die Massengesellschaft

Studia Neofilologiczne, X (2014), S. 35-52 (PDF)

Stefan George (1868-1933) führte verbalen „Krieg gegen das zur Masse gewordene Volk“[1]. Viele Gedichte namentlich des Spätwerks zeugen von seinem Widerwillen gegen die Großstadt und deren Einwohnerschaft; hinzu kommen einschlägige Äußerungen in Briefen und Gesprächen, soweit letztere von der Erinnerungsliteratur überliefert werden. Auch der Nationalökonom Wilhelm Röpke (1899-1966), dessen bekannteste Schriften – Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart und Jenseits von Angebot und Nachfrage – über die Grenzen der Wirtschaftstheorie hinaus weit in die kultur- und staatsphilosophische Reflexion reichen, war der Massengesellschaft abhold. Wo zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten den Griffel über ein- und dasselbe Problem führen, wird es interessant sein zu sehen, wie sich deren Bestandsaufnahmen und Therapie-Vorschläge gegeneinander verhalten. Ebendies soll im Folgenden geschehen.

Mehr lesen „Stefan George und Wilhelm Röpke über – und gegen – die Massengesellschaft“
Kultur zwischen Gewinnstreben, Nächstenliebe und Sozialstaat
|

Kultur zwischen Gewinnstreben, Nächstenliebe und Sozialstaat

Epistemologische und ethische Katastrophen ereignen sich für gewöhnlich in den unausgesprochenen Zusatzannahmen. Einen beliebten Fehler bilden überstrenge Dichotomien, das ewige „Entweder-Oder“, wo es rein gar nichts zu suchen hat. Hören wir, um solcher Infantilerei abzuhelfen, ein wenig Wilhelm Röpke zu:

Daß […] den höchsten geistigen Leistungen das Gewinnmotiv keineswegs fremd ist, lehrt besonders eindringlich der Fall Goethes, der offenbar erst durch ein günstiges Angebot Cottas, seines Verlegers, den letzten Anstoß erhielt, seinen „Faust“ zu vollenden. Es war Schiller gewesen, der dieses Angebot hinter Goethes Rücken veranlaßt hatte, indem er an Cotta am 24. März 1800 schrieb: „Ich fürchte, Goethe läßt seinen „Faust“, an dem schon so viel gemacht ist, ganz liegen, wenn er nicht von außen und durch verlockende Offerten veranlaßt wird, sich noch einmal an diese große Arbeit zu machen und sie zu vollenden… Er rechnet freilich auf einen großen Profit, weil er weiß, daß man in Deutschland auf dieses Werk sehr gespannt ist. Sie können ihn, das bin ich überzeugt, durch glänzende Anerbietungen dahin bringen, dieses Werk in diesem Sommer auszuarbeiten“ […]. Die prompte Wirkung auf Goethe ist in seinem Brief an Schiller vom 11. April 1800 nachzulesen. Wer aber wollte deshalb das Gewinnmotiv schmähen!

Mehr lesen „Kultur zwischen Gewinnstreben, Nächstenliebe und Sozialstaat“
Sprachimperialismus
|

Sprachimperialismus

Eine Reihe von Vereinigungen in Deutschland engagiert sich für den Erhalt und die Pflege der deutschen Sprache. Sie sind recht unterschiedlichen Charakters; das Spektrum reicht von der sehr gediegenen Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) bis zum umtriebigen und teils unbotmäßig aggressiv handelnden (K. Wirth, 2010, S. 290-296) Verein Deutsche Sprache (VDS), welcher von dem Wissenschaftler, Hochschullehrer und Erfolgsautor Walter Krämer ins Leben gerufen wurde. Wo die Tätigkeit der letzteren Vereinigung von Liebe zur Muttersprache getragen wird, sich zivilisierter Umgangsformen befleißigt und während irgendwelcher „Aktionen“ das Eigentum anderer auch dann achtet, wenn diese Anglizismen lieben (ebd., S. 283), überzeugt sie. Weniger schlagend hingegen mutet ihre Analyse der Ursachen an: Da ist (i) von „Sprachimperialismus“ die Rede – was einen Kategorienfehler beinhaltet, weil das Englische sich, einem Herrscher gleich, ein Reich bauen zu wollen scheint, obschon man dergleichen Absichten nur Personen zuschreiben kann –; werden (ii) Kontinentaleuropäer, welche sich des Englischen gern und oft bedienen, zu Äffenden gestempelt – was, von Fragen der Höflichkeit abgesehen, mehr als vorschnell wirkt, denn es könnte ja gute Gründe geben, sich der führenden Verkehrssprache in Wissenschaft und Ökonomie bedienen zu wollen –; werden (iii) mit Schlagworten wie „Stoppt die Amerikanisierung“ und „USA-Massenverblödung“ (ebd., S. 283) alte Verwerfungen zwischen Anglosphäre und Kontinentaleuropa aufgerissen, die bis in die letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichen, als Max Scheler, Werner Sombart und andere wider das Merkantil-Utilitaristische im Angelsächsischen zogen.

Hören wir eine Passage aus dem Vortrag „Macht über Marionetten“ des Germanisten Gert Ueding, der auf der Website des VDS veröffentlicht worden ist:

 „Die Globalisierung läuft nach dem Vorbild der USA ab“, stellt der Leiter der Pariser Zweigstelle von McKinsey befriedigt fest und weist darauf hin, daß die Dominanz der englischen Sprache für diesen Erfolg nicht unwichtig ist. Wir können solches Understatement ruhigen Gewissens in seine reale Dimension übersetzen.

Mit der Sprache wird angelsächsisches Wirtschaftsdenken übernommen, in dem etwa, so wieder jener McKinsey-Agent, die Unternehmenspolitik den Eigentümer-Interessen bedenkenlos untergeordnet wird, die Interessen der Beschäftigten keine Rolle spielen. Daß solche ökonomische Politik zur Unternehmenskultur hochgejubelt wird, wirkt wie ein zynischer lapsus linguae, ist aber in Wahrheit Bestandteil der Sprachpolitik. (G. Ueding, 2002)

Ueding setzt dem angelsächsisch „kalten“ Stil des Wirtschaftens deutsches Verantwortungsbewusstsein entgegen. Dergleichen wirkt wie das Bekenntnis einer schönen Seele. Doch steckt nicht viel dahinter. Denn Uedings Ausführungen gereichen zu einer suppressio veri: Es ist keine Rede davon, dass (i) die den Eigentümer-Interessen Geopferten nicht selten selbst Anteilseigner sind, wo der Aktienbesitz weit gestreut ist, und (ii) in einer weniger überregulierten Wirtschaft Menschen, die entlassen werden oder kündigen, leichter andere Arbeit finden können. Außerdem „vergisst“ Ueding zu erwähnen, dass (iii) Eigentümer-Interessen selbst kulturstiftend wirken können. Stichwort: Mäzenatentum. Hingegen hat (iv) deutsche Sozialpartnerschaft ihren Preis; wer sich den Realien des Marktes verweigert, lässt seine Kinder und Kindeskinder die Zeche zahlen – was man als Verstoß gegen das siebte Gebot auffassen kann –, während in der Zwischenzeit die Bundesrepublik Deutschland als Wirtschaftsstandort an Brauchbarkeit verliert.

Weiter
Röpke lesen und lernen

Röpke lesen und lernen

Wilhelm Röpke zählt zu den „stillen“ Großen deutscher Wissenschaft. Sein Denken verbindet Nationalökonomie und Geisteswissenschaft, wie kaum sonst zu finden; es zeigt, wie die Ergebnisse „der anderen Seite“ berücksichtigt sein wollen, und es tröstet, wo jene Einseitigkeit, die notwendig in Beschränktheit mündet, nicht zur Kenntnis nehmen will, was Kenntnisnahme verdiente. Deshalb ist es erfrischend unmodisch.

Eine der schönsten Passagen aus dem Röpke’schen Werk sei nun gegeben:

Daß freilich ein Buch wie dieses, das die Dinge ohne billige Trostgründe beim Namen nennt, nicht ganz ins Leere gesprochen zu sein scheint, gehört zu den Umständen, die Hoffnung machen. Die Aufnahme, die es […] gefunden hat, läßt im ganzen erkennen, daß ich mit vier Möglichkeiten der Reaktion zu rechnen habe.

Da sind erstens diejenigen, die das Buch en bloc ablehnen, weil es ihren mehr oder weniger kollektivistisch-zentristischen Ideen vollständig zuwiderläuft. Da sind zweitens die anderen, die an diesem Buche, das sich „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ nennt, eigentlich nur das zu schätzen scheinen, was diesseits und nicht jenseits liegt, die unbekehrten Rationalisten, die hartgesottenen Ökonomisten, die prosaischen Utilitaristen, die vielleicht meinen, daß aus dem Verfasser bei fester Führung ein halbwegs brauchbarer Nationalökonom hätte werden können. Da sind umgekehrt drittens diejenigen, die den Ökonomisten in mir selber als allzu hartgesotten tadeln und dafür nur den Teil des Buches loben, der von den Dingen „jenseits von Angebot und Nachfrage“ handelt, die reinen Moralisten und Romantiker, die mich vielleicht als Beweis dafür anführen, wie eine reine Seele durch die Ökonomie verdorben werden kann. Da sind endlich diejenigen, die dem Buche als ganzem günstig gesinnt sind und es als seinen Vorzug ansehen, daß es die drei anderen Gruppen herausgefordert hat.

Ich würde aus meinem Herzen eine Mördergrube machen, wenn ich nicht offen bekennen würde, daß mir die vierte Gruppe die liebste ist.

Die Botschaft dieser Zeilen ist deutlich. Wenn ein Geisteswissenschaftler auf Fragestellungen stößt, zu deren Beantwortung Kenntnisse der Nationalökonomie nötig sind, sollte er sich nicht davor drücken, den einen oder anderen Klassiker dieser Wissenschaft zu konsultieren. Wer angesichts eines Werkes, das Röpke, von Mises oder von Hayek verfaßt haben, ausruft: „Oeconomica sunt, non leguntur!“ handelt nicht vornehm, sondern kindisch. Fürchtet er, durch eine Erweiterung seines Horizonts zu verlieren? Wie das Beispiel Brecht zeigt, wird der in ökonomischer Hinsicht willentlich „blinde“ Geisteswissenschaftler sich eher ein X vor ein U machen lassen, wenn er auf persuasive Texte trifft.

Es ist mir gut erinnerlich, wie in einem Seminar über die sogenannte Kommunitarismus-Debatte – die sich um eine bestimmte Spielart antiliberaler Kritik dreht – erbittert gerungen worden ist. Dabei wäre viel Streit zu vermeiden gewesen, wenn sich die anwesenden Philosophen bereit gefunden hätten, Rat bei Rechtstheoretikern zu suchen, um sich über einige grundsätzliche Eigenschaften des Rechts zu informieren. Auch hier gilt: Der geisteswissenschaftliche Diskurs hätte von einem Blick über den Tellerrand nur profitieren können.

Wie fügt sich Röpkes Werk in das Weltbild eines Botho Strauß? Gelassener Ton, gelinde Ironie, Eleganz im Ausdruck, Liebe zur Sprache – von „unholfenem Informationsaustausch“ (Strauß) kann bei Röpke keine Rede sein. Von einem Zugang zur Welt als „Ingenieursphantasie“, die „das Reservoir des Möglichen plündere“, gleichfalls nicht.

Für „die andere Seite“ zeigt sich Röpke nicht minder wertvoll: Selten wird mit solchem Charme der Nachweis erbracht, daß Liberalismus auf Privateigentum und Marktwirtschaft gründet, mitnichten aber auf diese beiden Größen zu reduzieren sei.

(Der Auszug stammt aus dem Vorwort zur dritten Auflage von Röpkes Jenseits von Angebot und Nachfrage, abgeschlossen im Januar 1961; zitiert nach der vierten Auflage, Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1966. Bild: John Singer Sargent: Henry Tonks, 1918.)

Rudyard Kipling über die Tradition als Voraussetzung der Freiheit
|

Rudyard Kipling über die Tradition als Voraussetzung der Freiheit

Rudyard Kiplings „The Gods of the Copybook Headings“ („Die Götter der Schönschreibheft-Sinnsprüche“) sind ein erstaunliches Gedicht. Es ist knapp hundert Jahre alt. Wie konnte der Dichter so viele der Torheiten vorhersehen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten begangen haben?

As I pass through my incarnations in every age and race,
I make my proper prostrations to the Gods of the Market Place.
Peering through reverent fingers I watch them flourish and fall,
And the Gods of the Copybook Headings, I notice, outlast them all.

We were living in trees when they met us. They showed us each in turn
That Water would certainly wet us, as Fire would certainly burn:
But we found them lacking in Uplift, Vision and Breadth of Mind,
So we left them to teach the Gorillas while we followed the March of Mankind.

Bestimmte Einsichten und Empfehlungen locken keinen Hund hinter dem Ofen hervor – so selbstverständlich wirken sie. Vielen Menschen, besonders wenn sie jung sind, scheinen diese Maximen deshalb nichtssagend zu sein („Wasser macht naß“ etc.). Es fehlt ihnen das Erhebende und Orignelle („Uplift“, „Vision“ usw.); genau deshalb kann man mit vielen Auffassungen, die vernünftig sind, nicht renommieren. Auch erlauben sie nicht, uns für fortgeschrittener und also klüger als frühere Generationen zu halten („March of Mankind“)… Erkennen wir Köder und Falle?

We moved as the Spirit listed. They never altered their pace,
Being neither cloud nor wind-borne like the Gods of the Market Place;
But they always caught up with our progress, and presently word would come
That a tribe had been wiped off its icefield, or the lights had gone out in Rome.

Dergleichen ist geschehen, und es kann wieder geschehen.

With the Hopes that our World is built on they were utterly out of touch,
They denied that the Moon was Stilton; they denied she was even Dutch;
They denied that Wishes were Horses; they denied that a Pig had Wings;
So we worshipped the Gods of the Market Who promised these beautiful things.

Im Englischen gibt es die wunderbare Fügung „wishful thinking“, um eine bestimmte Form des Kindisch-Seins zu beschreiben, die uns allen immer wieder unterläuft. Das Deutsche ist gerade hier, an dieser für die Ethik und Staatskunst entscheidenden Stelle so viel ärmer! Auf Wünschen kann man nicht reiten, und Hoffnungen sind kein Fels, auf dem man bauen könnte; Hoffnung kann allenfalls dabei helfen, auf der Suche nach festem Grund nicht vorschnell aufzugeben.

When the Cambrian measures were forming, They promised perpetual peace.
They swore, if we gave them our weapons, that the wars of the tribes would cease.
But when we disarmed They sold us and delivered us bound to our foe,
And the Gods of the Copybook Headings said: „Stick to the Devil you know.“

Über die europäische (und deutsche) „Nachkriegsweisheit“ muß kaum ein Wort mehr verloren werden. Wir verlassen uns darauf, daß die Vereinigten Staaten von Amerika uns im Fall der Fälle heraushauen werden. Und verachten sie genau dafür.

On the first Feminian Sandstones we were promised the Fuller Life
(Which started by loving our neighbour and ended by loving his wife)
Till our women had no more children and the men lost reason and faith,
And the Gods of the Copybook Headings said: „The Wages of Sin is Death.“

Der „neue Mensch“ wollte nicht weniger als eine neue Welt gewinnen, und jetzt hat er sogar Schwierigkeiten damit, sich fortzupflanzen. Und er hat seinen Glauben und seine Vernunft verloren. Darüber lohnt nachzudenken. Die „Ehrfurcht vor dem Traditionellen“ ist, so Friedrich August von Hayek, „für das Funktionieren einer freien Gesellschaft unentbehrlich“.

In the Carboniferous Epoch we were promised abundance for all,
By robbing selected Peter to pay for collective Paul;
But, though we had plenty of money, there was nothing our money could buy,
And the Gods of the Copybook Headings said: „If you don’t work you die.“

Der Wohlfahrtsstaat beruht auf Diebstahl („robbing… Peter“), und er ist nur um den Preis chronischer Inflation zu haben. Allein Kiplings Hinweis, daß es nichts gebe, was unser Geld kaufen könne, muß nicht nur auf dessen Entwertung hinweisen. Hier mag auch dasjenige eine Rolle spielen, was Wilhelm Röpke „Langeweile in der Massengesellschaft“ nennt:

Die Menschen werden nicht nur als Produzenten, die typisierte Serienfabrikate in einer mehr und mehr mechanisierten Erzeugung herstellen, sondern auch als Konsumenten ihrer natürlichen Individualität entkleidet, da diese Serienerzeugnisse den individuellen Geschmack ignorieren müssen, während die Klasse derjenigen, die wohlhabend genug sind, die nicht über denselben Leisten geschlagenen Güter zu erwerben, dank einer von der erdrückenden Masse der Normalverbraucher erzwungenen Neidbesteuerung immer mehr zusammenschmilzt.

Kipling fährt fort:

Then the Gods of the Market tumbled, and their smooth-tongued wizards withdrew
And the hearts of the meanest were humbled and began to believe it was true
That All is not Gold that Glitters, and Two and Two make Four —
And the Gods of the Copybook Headings limped up to explain it once more.

Wir beginnen zu glauben, daß an den Weisheiten in den Schönschreibheften etwas dran sein könnte. Das heißt, die sich überlegen dünkenden Menschen aus Kiplings zwanzigstem und unserem einundzwanzigsten Jahrhunder tun das, was Tom Wolfe als Relearning beschrieben hat. Wir lernen, was Generationen vor uns wußten:

In 1968, in San Francisco, I came across a curious footnote to the hippie movement. At the Haight-Ashbury Free Clinic, there were doctors treating diseases no living doctor had ever encountered before, diseases that had disappeared so long ago they had never even picked up Latin names, diseases such as the mange, the grunge, the itch, the twitch, the thrush, the scroff, the rot. And how was it that they now returned? It had to do with the fact that thousands of young men and women had migrated to San Francisco to live communally in what I think history will record as one of the most extraordinary religious fevers of all time.

The hippies sought nothing less than to sweep aside all codes and restraints of the past and start from zero. At one point, the novelist Ken Kesey, leader of a commune called the Merry Pranksters, organized a pilgrimage to Stonehenge with the idea of returning to Anglo-Saxon’s point zero, which he figured was Stonehenge, and heading out all over again to do it better. Among the codes and restraints that people in the communes swept aside–quite purposely–were those that said you shouldn’t use other people’s toothbrushes or sleep on other people’s mattresses without changing the sheets, or as was more likely, without using any sheets at all, or that you and five other people shouldn’t drink from the same bottle of Shasta or take tokes from the same cigarette. And now, in 1968, they were relearning…the laws of hygiene…by getting the mange, the grunge, the itch, the twitch, the thrush, the scroff, the rot.

Aber zurück zu Kipling:

As it will be in the future, it was at the birth of Man —
There are only four things certain since Social Progress began: —
That the Dog returns to his Vomit and the Sow returns to her Mire,
And the burnt Fool’s bandaged finger goes wabbling back to the Fire;

And that after this is accomplished, and the brave new world begins
When all men are paid for existing and no man must pay for his sins,
As surely as Water will wet us, as surely as Fire will burn,
The Gods of the Copybook Headings with terror and slaughter return!

Wer atmet, dem steht auch dann, wenn er gesund ist, lebenslang Geld zu. Ob „Hartz IV“, „Bürgergeld“ oder „garantiertes Grundeinkommen“. Für das Brot und die Spiele. Keines weiteren Worts bedarf es, um in dieser Vorstellung den Gipfel der Dekadenz zu erkennen. Und zwar selbst dann, wenn nicht wieder Peter (und sein Nachwuchs bis in die x-te Generation) für den „kollektiven Paul“ zahlen müßte. Wobei überhaupt Peter, der ausgewählte („selected“) Peter, dort, wo die Schönschreibheft-Sinnsprüche auf taube Ohren stoßen, ganz offenbar der Einzige ist, der bestraft wird. Natürlich trifft es ihn nicht etwa deshalb, weil er eine Sünde oder sonstige Übertretung begangen hätte; schließlich wird wegen solcher Dinge niemand mehr ernsthaft bestraft, sondern „nur“ noch zu bessern versucht. Kipling durchdringt auch den Widersinn der pantherapeutischen Weltsicht, wie sie Theodore Dalrymple u.a. beschreiben, und erkennt sie als Symptom der Dekadenz, die er beschreibt. Peter wird ausgenommen, weil er (noch) geben kann.

Wie lange das so weitergehen kann und soll? Bis die Götter der Schönschreibheft-Sinnsprüche wiederkehren – mit Feuer und Schwert. Soviel zum Thema „vermeidbares Elend“.

***

Das Gedicht von Rudyard Kipling findet sich u.a. bei John Derbyshire, der es als Text und Hördatei bereithält. Auf Tom Wolfes Relearning-Topos bin ich durch Ed Driscoll aufmerksam geworden. Friedrich August von Hayeks Mahnung ist im vierten Kapitel, (sechster Abschnitt) von dessen „Die Verfassung der Freiheit“ enthalten. Wilhelm Röpke schreibt von der Langeweile in der Massengesellschaft im zweiten Kapitel seines Werkes „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Inhaltsübersicht); das Zitat stammt von Seite 110 einer älteren Ausgabe (Erlenbach-Zürich u. Stuttgart 1966). Natürlich bildet Kiplings Strophe von der Rückkehr der Sinnspruch-Götter keine Endzeitphantasie, sondern „nur“ einen Hinweis auf die Folgen menschlicher Dummheit. (Hintergrund-Bild: Pixabay.)

|

Ralf Dahrendorf: Liberalismus ohne Liberalismus

Zbliżenia interkulturowe 3, 2008, S. 169-171

Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006: C.H. Beck, 239 Seiten.

Ralf Dahrendorfs Versuchungen der Unfreiheit unternehmen „eine Erkundungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes” (S. 9). Das Interesse des Autors gilt einer besonderen „Art” (ebd.) unter den Intellektuellen, die – da es sich um Exponenten des auf dem europäischen Kontinent nur allzuoft mißverstandenen oder gar verleumdeten liberalen Denkens handelt[1] – „nicht jedermanns Helden” (S. 10) sind, z.B. Karl Popper und Isaiah Berlin. Sir Ralf fragt darnach, „wie diese bedeutenden Gestalten den Versuchungen der Unfreiheit widerstanden haben. Was war die Quelle ihrer Kraft, als die Umstände, in denen sie lebten, die Sonne der Freiheit verfinsterten?” (S. 9) – eine faszinierende und außerhalb des im engeren Sinne Wissenschaftlichen mehr als wichtige Fragestellung. Denn es werden sehr oft wenig verantwortungsvolle, wenig redliche Denker[2] als Vorzeige-Intellektuelle gefeiert. Max Horkheimer und sein im Wesentlichen auf Unkenntnis basierender Angriff auf die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus bildet dafür nur ein Beispiel.[3]

Dahrendorf interessieren die Menschen „hinter” den Intellektuellen; er versucht zu formulieren, was den Menschen Popper, den Menschen Berlin gegen die Sinn-Angebote der beiden Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts – „Gemeinschaft, ein Führer und verklärende Romantik der Sprache einerseits, die Partei, die Hoffnung auf das Paradies auf Erden und die Aura des Religiösen andererseits” (S. 39) – gewappnet habe. Dies verleiht dem Buch einen eigentümlichen Reiz; dem Autor gelingt es, die Dilemmata der Zeit einzufangen, angereichert durch eine Fülle teils anrührender Details aus dem Leben der Protagonisten, deren Selbstreflexion. Äußerungen von Denkern, die erkennen mußten, daß sie der totalitären Versuchung erlegen waren, verleihen dem Buch menschliche Tiefe (vgl. S. 34ff.). Exemplarisch Ignazio Silone, wie von Dahrendorf gegeben: „»Etwas davon bleibt und hinterlässt seine Zeichen auf dem Charakter, die man sein ganzes Leben mit sich herumträgt. Es fällt auf, wie leicht erkennbar die Ex-Kommunisten sind. Sie bilden eine Kategorie für sich, wie ehemalige Priester und frühere aktive Offiziere.«” (S. 38)

Gleichwohl ruft das Werk einen zwiespältigen Eindruck hervor. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, daß der Autor den Begriff „liberaler Geist” in einer Weite faßt, die von Verwässerung zu sprechen erlaubt. Zwar führt Sir Ralf – auf wenigen Seiten wunderbar anschaulich (vgl. S. 62ff) – den Nachweis, daß liberales Denken nur dort gedeihe, wo man Uneinigkeit nicht lediglich erträgt, sondern erkennt, wie wertvoll sie für alle Weiterentwicklung sei. Doch aus diesem Nachweis erwachsen keine – oder nur äußerst zaghafte (vgl. S. 65) – Konsequenzen in Sachen Wirtschaftsverfassung. Hält Dahrendorf „die Wirtschaftsfreiheit nicht für ein wesentliches Merkmal der freien Welt und die wirtschaftliche Unfreiheit nicht für ein wesentliches Merkmal der unfreien Welt”[4]? Hier muß – unter Berufung auf die Autorität Wilhelm Röpkes – vor dem „schweren und sogar verhängnisvollen” Irrtum gewarnt werden, „daß die Organisation der Wirtschaft […] den Philosophen nicht berühre, der im geistig-politischen Bereich liberal, im wirtschaftlichen jedoch ein Kollektivist sein könne”.[5] Was soll ein Liberalismus ohne Liberalismus?

Verwunderung erweckt ferner, daß ein Denker vom Format Dahrendorfs sich dazu hergibt, Ernst Jünger – gegen den gewiß viel eingewendet werden kann – in weitgehend polemischer Manier abzufertigen (vgl. S. 120f.); dabei wird Jüngers Auf den Marmorklippen fehlerhaft nacherzählt.[6] Auf diesen Lapsus jedoch folgt wie Sonnenschein auf Regen ein äußerst wertvoller Vergleich Jüngers mit Theodor W. Adorno, dessen „reines Schauen aus dem Glaskäfig der ästhetischen Verfremdung […] in manchem dem von Jünger eng verwandt” (S. 123) sei. „»Ein bisschen leichtfertiger Höllenspass und ebenso leichtfertiges Revoluzzergeschwätz, wenn auch immer in feinen Worten«, […] (um […] [Dolf] Sternberger zu zitieren). Insofern war Adorno, wie Jünger, ein sehr deutscher Intellektueller.” (S. 125) Ein derartiger Hinweis gibt zu denken; Dahrendorf hat hier ein ernstes Defizit (nicht nur) der deutschen Nationalkultur getroffen, über das man sich Rechenschaft ablegen sollte.

So ist es der Widerwille gegen den moralischen Maximalismus und Manichäismus, auf den Sir Ralf abzielt, wenn er den liberalen Denker zu beschreiben versucht. (In dieser gestalterischen Entscheidung liegt vermutlich die Ferne des Werkes zur Wirtschaftsverfassung begründet, der Liberalismus ohne Liberalismus.) Dahrendorf sieht solche Skepsis in Erasmus von Rotterdam verkörpert, dessen Distanz zu Luthers Eiferertum er hervorhebt (vgl. S.81ff.). Auch dies eine wichtige Lektion! Denn nur allzuoft wird in unserer Zeit derjenige, der nicht eifert, für schwächlich oder prinzipienlos gehalten. Zeigen wir uns damit zivilisierter, gebildeter, weiser – oder auch nur klüger – als Erasmus?

Dahrendorf liest uns also die Leviten. Er tut wohl daran, denn wir haben es nötig. Leider jedoch beeinträchtigt er deren Wirkung durch eine Ungleichbehandlung Jüngers und Adornos: Daß der Verfasser der Marmorklippen bei Sir Ralf keine Gnade findet, wirkt nachvollziehbar. Daß aber Adorno sich gegen Ende des Werkes in ein- und derselben Denker-Kohorte mit Popper und Berlin wiederfindet, bleibt trotz aller Bitten um „Nachsicht und Ironie” (S. 220) unverständlich – nach alledem, was Dahrendorf über (oder: gegen) Adorno festgestellt hatte[7], und noch vor alledem, was Popper über seinen neuen, derart ihm zugedachten Mitgenossen Adorno zu bemerken unabdingbar gefunden hätte.[8] Spätestens hier verliert sich die Entdeckungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes im Gestrüpp der Beliebigkeit. So viele bemerkenswerte Portraits, Deutungen und Einsichten – darunter ein melancholisches, von großer Zuneigung gezeichnetes Portrait Englands (vgl. S. 157ff.) – auf dem Wege gesammelt wurden.

Anmerkungen